Elf Leben
. Es tut mir unendlich leid ist zu melodramatisch, Ich bitte um Entschuldigung zu förmlich. Was er braucht, ist eine Erklärung der Tatsache, dass sie etwas Entscheidendes, aber Schmerzhaftes angestoßen hat, dass sie ihn irgendwie dazu gebracht hat, etwas zu konfrontieren, das er jahrelang gemieden hatte. Mit anderen Worten: keine SMS , sondern ein ausführliches Gespräch, aber daran wagt er sich noch nicht heran. Am Ende schreibt er: Es war alles meine Schuld. Bitte melde dich. Xavier. Für die knapp fünfzig Buchstaben braucht er fast zwanzig Minuten. Er starrt in der leisen Hoffnung auf eine sofortige Antwort ein paar Minuten auf das Handy und sinkt dann in einen tiefen Schlaf, ungetrübt durch Träume von Australien oder irgendetwas anderem.
Ein monotones Schrillen reißt ihn aus dem Schlaf. Xavier fühlt sich, als müsste er beide Lider einzeln hochziehen. Bis er ganz wach ist, hat das Telefon aufgehört zu klingeln. Gleich darauf beginnt es erneut. Die Hoffnung lässt sein Herz für einen Moment schneller schlagen, aber auf dem Display steht MURRAY .
»Wollte nur mal hören, wie’s dir geht.«
»Viel besser, danke.«
»Du k-k-kommst also heute Abend? Freut mich zu hören.« Murray, dem Feingefühl am Telefon ebenso abgeht wie im persönlichen Gespräch, kann eine gewisse Enttäuschung nicht verbergen.
»Ja. Wie lief’s denn gestern Nacht?«
»Och, gar nicht schlecht. Einige waren sehr angetan.«
Sie machen aus, dass Murray Xavier zur üblichen Zeit abholt. Erst als das Gespräch beendet ist, durchfährt Xavier wie ein Blitz der Gedanke, dass er nachsehen sollte, ob Pippa schon geantwortet hat. Hat sie nicht.
Einige Hörer haben sich per E-Mail nach Xaviers Befinden erkundigt; viele von ihnen haben die Hoffnung geäußert, dass Murray nicht noch einmal allein moderiert. Xavier versucht, ihnen zu antworten und einige andere Aufgaben in Angriff zu nehmen, aber vergeblich: Selbst eine so armselige Erinnerung an Pippa wie das aufgeräumte Bücherregal im Arbeitszimmer verdrängt alles andere aus seinem Kopf. Außerdem hat er mit einer plötzlichen Flut von Erinnerungen zu kämpfen, die vorher tabu waren: Er weiß, dass es irgendwann eine Erleichterung sein wird, aber im Moment ist er erschöpft und durcheinander.
Der Abend schleppt sich dahin, und allmählich wird es unmöglich, Pippas ausbleibende Antwort dadurch zu erklären, dass sie vielleicht zu viel um die Ohren hat oder überlegt, was sie schreiben soll. Xavier ärgert sich über sich selbst wegen dieses teeniehaften Blödsinns, der Überlegungen und Spekulationen, und beschließt, sie anzurufen. Das simple Drücken auf einen Knopf ist sehr viel nervenaufreibender, als es sein sollte. »Krieg dich ein«, murmelt Xavier. Aber Pippa geht nicht ran, und er kann noch nicht einmal eine Nachricht hinterlassen. »Der gewünschte Teilnehmer ist im Moment nicht erreichbar«, sagt eine künstliche Stimme hämisch. »Bitte versuchen Sie es später noch einmal.«
Die Woche kriecht ebenso träge dahin wie der Abend, und in Xaviers Kopf herrscht dieselbe benebelte Lethargie. Er schickt Pippa noch weitere SMS , in bittendem, ja sogar flehendem Ton. Ich würde mich wirklich sehr freuen, wenn du dich meldest. Normalerweise blaffe ich niemanden so an, aber du scheinst genau meinen wunden Punkt getroffen zu haben. Du bist mir sehr wichtig geworden. Er ist überrascht über diesen Satz – sowohl darüber, dass er stimmt, als auch darüber, dass er selbst bereit ist, ihn auszusprechen. Er lässt ihn so stehen. Es kommen keine Antworten, und jede fruchtlose Nachricht fühlt sich an wie eine demütigende Niederlage. Nachts schreckt er immer wieder aus grauen, bedrohlichen Träumen hoch.
Am Mittwochnachmittag begegnet Xavier auf dem Treppenabsatz vor seiner Wohnung Tamara. Sie lächeln sich vorsichtig an, jeder in dem Wissen, dass der andere am Wochenende aus seiner Wohnung Geräusche gehört haben könnte, die Anlass zu Spekulationen geben. Tamara trägt eine Sonnenbrille, bemerkt Xavier mit einem Schrecken. Machen das nicht Menschen mit gewalttätigen Partnern, um ein blaues Auge zu verbergen? Er versucht, sich an die Bewusstseinskampagne zu erinnern; sie lief eine Weile in der Sendung – was waren noch mal die anderen Anzeichen für häusliche Gewalt? Ihm fällt nur noch der Aufruf ein: Schweigen Sie nicht, wenn Sie ein Opfer häuslicher Gewalt kennen . Er beäugt sie so genau, wie er sich traut.
»Weißt du noch, diese Petition?«, sagt Tamara.
»Wie
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