Elf Leben
setzt sie sich im Bademantel in die Wohnküche und isst Porridge mit Brombeeren. Sie schaut die Frühstücksnachrichten im Fernsehen. Später hat sie vor, nach einer Stunde Yoga und einem Besuch im Fitnessstudio Mittag zu essen und dann um vier ihre Sendung aufzuzeichnen. Wie sonst auch wird um Viertel nach zwei ein Wagen vorfahren und sie abholen.
Bis zum Alter von vielleicht dreißig machte sich Edith oft Sorgen, dass sie für all ihre Vorteile – gutes Aussehen, robuste Gesundheit, eine steile Karriere, Geld, Beliebtheit – eines Tages würde bezahlen müssen, dass diese Vorteile auf einer Seite einer Bilanz stünden, auf deren Gegenseite die Details einer gewaltigen Niederlage verzeichnet wären, die ihr noch bevorstand. Als ihr Selbstvertrauen wuchs, wurde ihr klar, dass das purer Aberglaube war. Manche Menschen, erkannte sie, sind einfach für den Erfolg bestimmt, andere dagegen zum Scheitern verurteilt. Und von denen, die für den Erfolg bestimmt sind, arbeiten einige hart, um ihrer Bestimmung gerecht zu werden, während andere alle Fünfe gerade sein lassen. Edith wurde klar: Dorthin, wo sie war, hatte sie eine Mischung aus Glück und Strebsamkeit gebracht. Es war sehr viel vernünftiger zu glauben, dass sie mit diesen Methoden weiterhin Erfolg haben würde, als sich zu sorgen, dass ihr Thron durch irgendeine zufällige Verschiebung der Kontinentalplatten des Schicksals ins Wanken geraten könnte.
Ihre Zuversicht war stets gerechtfertigt worden, aber als es Xavier an jenem verschneiten Tag nicht gelang, Frankie zu retten, begann sich alles zu ändern.
Ediths Handy vibriert auf dem Tisch. Es ist Maxine, ihre Agentin. Edith nimmt ab.
»Meine Güte, ist es nicht ein bisschen früh am Morgen?«
Die Munterkeit in Maxines Stimme ist spürbar gekünstelt.
»Edith, kein Grund zur Sorge, aber ich muss mal was mit dir besprechen.«
Bei den Worten ›kein Grund zur Sorge‹ versteift sich Ediths Wirbelsäule.
»Was gibt’s denn?«
»Mich hat vorhin eine Journalistin angerufen. Und eine E-Mail hat sie auch geschickt.«
Ediths Körper hat immer noch ein paar Sekunden Vorsprung vor ihrem Gehirn. Unsichtbare Hände kriechen darüber, versetzen ihr hier und da kleine Stöße. Sie spürt, wie sich ihre Kehle zusammenschnürt.
»Und …?«
»Na ja, sie hat … Andeutungen gemacht, dass du … dass du …« Maxine hustet. »Eine Affäre hast.«
Als wäre im Flur irgendein großer Gegenstand umgestoßen worden, bildet sich Edith für einen Moment ein, das Poltern des wackeligen Turms zu hören, den sie errichtet hat.
»Edith?«
Maxines Stimme klingt sehr weit weg.
Edith schluckt.
»Woher … ich meine, woher hat sie …?«
»Ich weiß es nicht, Edith.«
In Maxines sonst so weicher Stimme schwingt ein hoher, noch nie dagewesener Ton mit, den Edith nach einigen Augenblicken als Furcht identifiziert. Das ist die erste Situation in den neun Jahren ihrer Zusammenarbeit, in der Maxines Repertoire an Tricks und Schmeicheleien, ihre flammenden Reden und Überzeugungskünste nicht genügen werden.
»Sie wird es morgen veröffentlichen.«
Edith atmet zweimal ein und aus, und erst beim zweiten Ausatmen bringt sie etwas heraus.
»Können wir irgendetwas tun?«
»Das kommt drauf an, Edith. Stimmt es denn?«
Während Edith Thornes Woche mit dem größten Schock ihres Lebens beginnt, beginnt die von Xavier alles in allem wie erwartet. Es herrscht eine trübselige Atmosphäre des Niedergangs, die die Wohnung von Xavier aufzusaugen scheint, um sie dann wieder zurückzugeben; und selbst mit ihrem äußerlichen Zustand geht es in der kurzen Zeit ohne Pippa schon wieder bergab. Das Spülbecken steht voller Tassen, das Bad ist schmuddelig, auf dem Bücherschrank und dem Fensterbrett flockt der Staub; alles Dinge, die ihm vor ihrem ersten Besuch nicht aufgefallen wären. Xaviers Versuche, etwas sauberzumachen oder aufzuräumen, wirken in Anbetracht der gesetzten Maßstäbe jämmerlich dilettantisch und führen dazu, dass er sich noch mehr nach der Frau sehnt, zu der er, wie ihm immer klarer wird, keinen Kontakt aufnehmen kann.
Gegen elf Uhr holt Xavier die Post und bringt sie seinen beiden Nachbarinnen. Er drückt sich ein paar Augenblicke vor Tamaras Tür herum, aber natürlich ist drinnen alles still; sie ist wie immer früh zur Arbeit gegangen, nachdem oben, direkt jenseits der Grenzen von Xaviers Bewusstsein, ihre Highheels über den Boden klackerten. In ihrer Post ist ein braunes Päckchen mit der Aufschrift
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