Elf Leben
sich Maggie noch weiter vor und flüstert Stacey mit ihrer Fahne direkt ins Ohr, und diesmal klappt Staceys Mund so weit auf, dass fast eine Faust hineinpassen würde.
Xavier sitzt mit einem Glas Wein in der Küche, genau eine Woche, nachdem er die Flasche mit Pippa geöffnet hat, und denkt an seinen Abschied von Australien.
Fast mit dem Moment, in dem seine Entscheidung fiel, entspannte sich die Lage, wenn auch nur ein klein wenig. Seine Mutter wirkte erleichtert; sie war nicht, wie sie es unter anderen Umständen gewesen wäre, besorgt, weil er fortging. Als er das merkte, war er so beschämt, dass es nun endgültig kein Zurück mehr gab. Er traf sich mit Matilda auf einen Kaffee; danach lagen sie sich eine Weile in den Armen. Bec und Russell gehe es gut, sagte sie. Russell selbst rief an, um sich zu verabschieden. Auch er sagte, Bec gehe es gut, und Michael auch. Es war das erste Mal seit Monaten, dass Chris den Namen direkt hörte. Für ein paar Sekunden konnte er nichts antworten. Russell beendete das Telefonat mit den Worten: »Gott segne dich, mein Freund.« Solche Sachen sagte er normalerweise nicht.
Ein paar Tage vor der Abreise schlenderte Chris allein die Brunswick Street entlang, da sah er an der Straßenbahnhaltestelle den alten Mann. Wie beim letzten Mal trug er eine speckige Baseball-Kappe und umklammerte eine Dose Lager, die wahrscheinlich schon eine Weile leer war. Es überraschte Chris, dass der Alte ihn erkannte.
»Lange nicht mehr gesehen!«, krächzte er. »Wie geht’s denn so?« Er ließ seine eigenartig gut erhaltenen Zähne aufblitzen.
»Äh, ja, gut«, murmelte Chris. »Höhen und Tiefen.«
»Höhen und Tiefen!« Der Achtzigjährige lachte rau. »Höhen und Tiefen, so kann man das wohl nennen. Weißt du, an eins musst du immer denken.« Er wischte sich über den Mund und hustete. »Es kommt, wie es kommen soll. Stimmt’s?«
»Ja, ich …«, begann Chris, aber sein neuer Freund war nicht auf Bestätigung aus.
»Es kommt, wie es kommen soll. Kannste machen, was du willst. Manches passiert. Anderes nicht. Stimmt’s? Ändern können wir eh nichts!« Der Mann machte eine ausschweifende Geste. »Wir denken, wir könnten was ändern, aber Pustekuchen! Wir sind bloß … ein paar blöde Idioten, mein Freund!«
Er bat Chris um eine Zigarette. Chris gab ihm zehn Dollar, und zum leichten Erstaunen beider schüttelten sie einander die Hand. Chris ging weiter, vorbei an der Kreuzung, an der er nicht mehr wie früher zu Bec und Russell abbog, und wusste, dass er den Mann nie mehr wiedersehen würde.
Beim Zwischenstopp auf dem Flughafen von Dubai, nach zwei Dritteln der Strecke nach England, blieb Chris einen Moment oben an einer großen Treppe stehen und sah hinab auf die Horden von Menschen, die dort unten über den glänzenden Boden liefen, kreuz und quer, von Geschäft zu Geschäft. Es war ein beruhigender Gedanke, dass er keinen einzigen ihrer Namen kannte und keiner von ihnen seinen. Draußen, am Rand einer Startbahn, waren Dutzende Kisten mit der Aufschrift CHINA SHIPPING , MAERSK SEALAND gestapelt. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was in den Kisten war oder wozu sie dienten, und wieder war das Unwissen tröstlich.
Zwei Wochen nach der Landung in Heathrow verwandelte sich Chris Cotswold in Xavier Ireland. Er hatte einen neuen Namen, eine neue Adresse und – schneller als erwartet – einen Job: all das zusammen ergab eine neue Identität. Xavier hatte es nie zu einer besonderen Bedingung dieser Identität gemacht, sein Leben so weit wie möglich an sich vorbeilaufen zu lassen und sich aus dem der anderen ebenfalls herauszuhalten, aber er merkt jetzt, dass das sein unausgesprochener Pakt mit der Welt war, seit er einen Fuß auf englischen Boden gesetzt hatte. Während die Samstagnacht in den Sonntagmorgen übergeht – langsam, fast zögerlich weicht die Dunkelheit aus dem Himmel –, spürt er nur sehr vage, dass dieser Pakt in den letzten Wochen erschüttert wurde.
VIII Edith Thorne, eine bekannte TV -Moderatorin, achtunddreißig Jahre alt und in einer außerehelichen Affäre mit einem angesehenen Parlamentsabgeordneten, wacht um sieben Uhr in ihrem Haus in Notting Hill auf, während Maggie Reiss drei Straßen weiter in Kürze ihren ersten faulen Montagmorgen im Bett als Beschäftigungslose genießen wird. Ediths Mann Phil hat bereits geduscht und ist mit den Gedanken schon halb bei der Arbeit. Oben an der Treppe stempelt sie ihm einen Kuss auf die Wange. Als er weg ist,
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