Elf Leben
bisschen …« Murray führt kreisend einen Zeigefinger zur Schläfe.
»Nein, nimm sie rein.«
Kaum dass Xavier die papierdünne verschmitzte Stimme der Anruferin hört, erinnert er sich an sie.
»Ich bin die alte Dame in Walthamstow. Ich habe vor einigen Wochen schon mal angerufen …«
»Ja, natürlich! Und, was macht der Verfall und Untergang des römischen Imperiums ?«
»Ist nicht aufzuhalten, fürchte ich.«
»Tatsächlich nicht«, sagt Xavier. »Na ja, hoffen wir, sie können das Ruder doch noch irgendwie herumreißen. Also, Iris, beim letzten Mal haben Sie uns von einem Herrn namens Tony erzählt. Er war die Liebe Ihres Lebens, aber Ihre Wege trennten sich für – für wie viele Jahre noch mal, fünfzig? Und dann haben Sie ihn wiedergesehen.«
»Ja. Sie haben mir geraten, ich solle versuchen, ihn noch einmal zu treffen. Sie haben ihn sogar gebeten, sich zu melden, falls er zuhört.«
»Na, dann spannen Sie uns nicht länger auf die Folter, Iris. Hat sich etwas ergeben?«
Xavier stellt sie sich in ihrer Erdgeschosswohnung im Osten Londons vor, wie sie das Kabel ihres altmodischen Telefons um die knochigen Finger wickelt.
»Nun, Xavier, wochenlang tat sich gar nichts. Er hat sich nicht gemeldet. Und ich dachte mir, ach je, offenbar hört er die Sendung nicht …«
»Also, das kann ich kaum glauben«, sagt Xavier trocken. »Soweit wir wissen, hört jeder in London unsere Sendung.«
»Das hatte ich auch gehofft!«, kichert Iris. »Deshalb bin ich irgendwann dorthin gegangen, wo ich ihn zuletzt getroffen hatte, und habe dort herumgehangen , wie Sie es wohl nennen würden. Ich kann Ihnen sagen, es ist gar nicht so einfach, als alte Frau irgendwo herumzuhängen. Die Leute fragen einen andauernd, ob alles in Ordnung ist. Zwei junge Männer wollten mir über die Straße helfen.«
Murray: »Schön zu hören, dass es noch K-k-k-k«
»Kavaliere gibt«, stimmt Xavier zu.
»Ja, schon«, sagt Iris, »aber in diesem Fall war es ziemlich lästig. Jedenfalls hatte ich die Hoffnung schon beinahe aufgegeben. Aber dann dachte ich an Ihre Ermutigung, Xavier, und ich habe mir gesagt: Nein, verflixt noch mal, ich gebe mich nicht geschlagen. Mir fiel ein, dass er beim letzten Mal, als ich ihn traf, ein Rezept für seine Frau abgeholt hat, an einem Freitag. Also habe ich mir jeden Freitag irgendeinen Vorwand überlegt, um zu Boots zu gehen. Letzten Freitag war ich wieder dort und hab getan, als würde ich mich nach Schirmen umsehen – in meinem Alter ist es zwecklos, sich vor die Schminkeregale zu stellen –, und da war er! Und wenn ich ehrlich sein soll – na ja, er schien sehr erfreut, mich zu sehen. Wir haben zusammen einen Tee getrunken und etwas gegessen!«
»Aber das sind ja fabelhafte Neuigkeiten, Iris!« Xavier lächelt, er freut sich wirklich. »Und, werden Sie sich wiedersehen?«
»Na ja, er ist natürlich verheiratet, und ich bin Witwe und so weiter, deshalb wären gewisse Dinge unangebracht …«
»Sie wollen sich doch nicht etwa mit ihm nach Barbados absetzen oder so etwas?«
»Du liebe Güte, nein.« Iris kichert wieder, und Xavier denkt, dass es keinen Unterschied gibt zwischen der jungen Frau, die 1950 Tony kennenlernte, und der, die er jetzt in der Leitung hat; die ausgelassene 1950er-Version steht immer noch im Lebensmittelladen und schäkert mit den Kunden, auch wenn der Laden nicht mehr da ist; irgendwie existiert jeder einzelne Moment weiter, irgendwo.
»Aber treffen Sie sich weiterhin? Und rufen Sie uns wieder an und lassen uns wissen, wie es weitergeht?«
In ihrer Stimme schwingt, wieder einmal, eine Spur von Schalkhaftigkeit mit.
»Vielleicht. Vielleicht müssen wir aber auch darum bitten, dass unsere Privatsphäre respektiert wird, wie diese Edith …«
Xavier und Murray lachen.
Murray will schon den nächsten Anrufer hereinnehmen, als Iris noch hinzufügt: »Ich muss mich bei Ihnen bedanken, Xavier. Ich hätte nie – ohne Sie hätte ich niemals … Also, vielen Dank.«
Als sie sich verabschieden, lächelt Xavier unwillkürlich. Und bevor er weiß, wie ihm geschieht, hat ihm die plötzliche gute Laune auch schon seine nächsten, überraschenden Worte in den Mund gelegt.
»Nach dieser ergreifenden Geschichte einer Wiederbegegnung hier auf Late Lines möchte ich versuchen, eine weitere anzustoßen. Pippa, falls du gerade zuhörst, bitte melde dich. Es war alles meine Schuld. Ich würde dich sehr gern wiedersehen.«
»Und hier kommt … äh, hier kommt der nächste
Weitere Kostenlose Bücher