Elf Leben
verbreitete Furcht. Er öffnet jedoch nicht die letzte Mail von Clive Donald, der in diesem Moment etwa die Hälfte einer Doppelstunde Mathe in der 11.2, seiner schlimmsten Klasse, hinter sich gebracht hat, ruhig zusieht, wie sie pfeifen, johlen und schwatzen, und dabei denkt, dass es sehr bald keine Doppelstunden mehr geben wird, weder in dieser Klasse noch in der 13.1, Julius’ Klasse, und auch keine Montage mehr.
Am Donnerstagabend ist Edith Thornes Untreue in aller Munde und hat Nordkoreas Atomwaffenexperimente von den Titelseiten dreier überregionaler Zeitungen verdrängt. Das Thema ist so präsent, dass Murray es in seine »Nachtgedanken« aufnimmt, wobei er Xavier zur Rolle des Politikers verdonnert. Sie tragen einen kleinen Sketch vor, den Murray auf ein paar seiner gelblichen linierten Blätter gekritzelt hat.
»Wenn sonst noch jemand von euch mit Edith Thorne schläft, könnt ihr es uns jetzt ruhig sagen«, schickt Xavier trocken hinterher, und Murray gluckst leise. »Ruft uns an.«
Die 1,2-Millionen-Pfund-Villa, die Edith vor ein paar Tagen noch für eine sichere Zuflucht vor der Außenwelt gehalten hat, wird jetzt Tag und Nacht von Reportern belagert; ein Fotograf kampiert in seinem Wagen sogar gegenüber an der Straße. Im größten Wohnzimmer finden, wie die Zeitungen es nennen, Krisengespräche zwischen Edith und ihrem fassungslosen Mann statt. Ebenso fassungslos ist Alessandro Romano, der italienische Barmann am anderen Ende der Stadt, mit dem sie parallel eine weitere Affäre hatte und der dachte, sie wäre in ihn verliebt und stünde kurz davor, seinetwegen ihren Mann zu verlassen. Er zapft Bier, ohne den Gästen in die Augen zu sehen, und wartet vergeblich auf eine SMS . Der Politiker, mit dem Edith geschlafen hat, hat sich bereits umfassend bei seinem Parteiführer und seinen Wählern entschuldigt, als wären sie die eigentlichen Opfer der Situation.
Am Freitagmorgen um zwei Uhr sind die meisten Nachtmenschen in London auf ihrem Posten. Julius Brown träumt immer noch, dass man ihm wegen des Überfalls auf die Spur kommt, aber er hat mittlerweile begriffen, dass die Träume selbst die Strafe sind. Er weiß immer noch nicht, wo er die siebenundsechzig Pfund für den kommenden Monat im Fitnessstudio hernehmen soll, aber er hat – es mag Ironie des Schicksals sein – bei dem Stress der letzten Monate leicht abgenommen. Clive Donald, bei dem er zuvor Trigonometrieunterricht hatte, liegt wach und hat das Radio an, und er stellt sich die Bekanntgabe seines Selbstmords in der Schulversammlung vor. »Ich muss Ihnen allen eine sehr traurige Mitteilung machen, eine schreckliche Mitteilung.« Endlich einmal Stille im Saal.
Die Verkehrssicherheitsbeauftragte der Bezirksverwaltung von Haringey, Tamara Weir, wälzt sich im Bett und wünschte, sie hätte noch jemand anderen zum Reden als ihren Freund. Sie hat viel auf dem Herzen; es ist so schwer, die Leute ohne weitere Unterstützung für die Temposchwellen-Kampagne zu interessieren, vielleicht könnte sie irgendeinen Star für die Sache gewinnen, aber woher die Kraft dazu nehmen … Seit ihr Dad gestorben ist, ist nichts mehr wie vorher. Sie kann einfach nicht glauben, dass sie nicht da war. Über dem Parkplatz vor Xaviers Studio ziehen eilig Wolken über den Mond.
»Na denn, freuen wir uns auf Drinks am Samstagabend«, sagt Murray, während die Nachrichten und das Wetter laufen.
Anthony, einer der Geschäftsführer der Gesellschaft, der der Sender gehört – der Chef ihres Chefs –, zieht sich nach dreiunddreißig Jahren zurück und gibt am Wochenende in einer schäbigen Kneipe auf der Tottenham Court Road, direkt hinter dem BT Tower, seinen Ausstand. Es ist die Art von Veranstaltung, auf die sich niemand freut – wahrscheinlich nicht einmal derjenige, der geht –, aber Anthonys Nachfolger, ein cleverer junger Typ namens Paul Quillam, der »den Sender voranbringen« will, wird auch da sein, und ihr Fehlen würde sicher mehr auffallen als ihre Anwesenheit.
»Ich kann’s kaum erwarten«, sagt Xavier.
»S-s-sollen wir uns vorher treffen? Und uns schon mal ein paar hinter die Binde kippen, bevor es losgeht?«
»Gute Idee. Wir brauchen mindestens zwei Gläser Vorsprung vor allen anderen.«
»No-noch dreißig Sekunden. Da ist eine Anruferin in der Leitung, die sagt, sie hätte dir was sehr Wichtiges zu erzählen. Eine Iris?«
Da war doch was, denkt Xavier.
»Oder sollen wir lieber ein neues Thema anfangen? Sie könnte ein
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