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Elf Leben

Elf Leben

Titel: Elf Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Watson
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STRENG VERTRAULICH . Vor seiner eigenen Wohnung hält ihn ein gellender Schrei von Jamie auf, dem ein ungewöhnlich schwaches »Bitte, Jamie, hör auf« von Mel folgt. Dann hustet sie bellend, mehrmals und immer stärker; es ist kaum mit anzuhören. Jamie brüllt und schlägt gegen irgendetwas. »Mummy geht es nämlich nicht gut«, antwortet Mel und beginnt wieder zu husten.
    Xavier zögert einen Moment, dann tappt er die Treppe hinunter und klopft an die Tür. Fast sofort wird geöffnet. Mels Haar hängt wie eine ausgewaschene Gardine um ihr Gesicht. Sie hat tiefe Falten unter den Augen.
    Sie lächelt Xavier matt an.
    »Hallo. Tut mir leid, hier sieht’s ziemlich chaotisch aus.«
    »Ich wollte bloß mal … ich dachte, du bist vielleicht krank. Brauchst du irgendwas?«
    Jamie taucht neben seiner Mutter auf und zerrt wild an den Falten ihres Pullovers.
    Mels trübe Augen flackern dankbar auf.
    »Das ist aber echt … danke. Was hast du denn?«
    »Ich hab Hustensaft und, äh, diese Kopfschmerzdinger.«
    »Paracetamol?«
    Xavier grinst.
    »Ja, genau. ›Kopfschmerzdinger‹ ist der Fachbegriff.«
    Sie lacht und schnieft.
    »Ist es in Ordnung, wenn ich …?«
    »Ja klar. Du bist ja offensichtlich krank. Mir geht’s ganz gut. Du kannst die Sachen ruhig haben.«
    Im Badezimmerschrank, von Pippa mühelos neu sortiert, findet er im Handumdrehen, was er sucht. Schnell packt Xavier eine Schachtel Paracetamol, zwei Rollen Halsbonbons, eine Flasche Hustensaft und noch ein paar andere Dinge, die ihm nützlich erscheinen, in eine Tüte und bringt sie eine Etage tiefer. Mel, die immer noch mit dem Ellbogen die Tür aufhält, sieht ihn dankbar an, und ihre wässrigen Augen werden noch feuchter. Wenn sie krank ist, wird sie immer so peinlich rührselig; vorhin kamen ihr wegen eines Werbesongs die Tränen. Jamie schießt unter ihrem Arm hervor, stürmt zur Haustür und hämmert mehrmals mit seinen kleinen Fäusten davor.
    »Komm zurück, Jamie. JAMIE , KOMM HER .«
    Aber beim Rufen überschlägt sich ihre Stimme und versagt unter einer weiteren Hustenattacke.
    Xavier, auf einmal beherzt, hockt sich hin und sucht Blickkontakt mit dem Jungen in dem rot-gelben Pullover, der heute Morgen frisch aus dem Schrank kam, aber schon wieder schmuddelig ist.
    »He, Jamie. Komm mal her.«
    Jamie denkt kurz darüber nach, wackelt dann wieder zurück zu den Erwachsenen und zerknüllt ein Stück von Xaviers Hemd in der Faust.
    Mel schnappt sich ihren Sohn und hebt ihn sanft zurück über die Türschwelle. Jamie, den Xaviers Eingreifen auf dem falschen Fuß erwischt hat, protestiert nicht einmal.
    »Danke. Er wird immer schlimmer mit dem Wegrennen. Also, immer besser. Du weißt schon, was ich meine. Letzte Woche hat er es zweimal bis auf die Straße geschafft.«
    »Wenn ich sonst noch irgendwas tun kann«, sagt Xavier. »Jetzt, wo du krank bist. Das heißt, du brauchst natürlich nicht krank sein.«
    Sie lächeln einander an, und Mel schließt sachte die Tür. Beschwingt geht Xavier hoch in sein Arbeitszimmer und macht sich an seine E-Mails. Nach der Hälfte geht er, um kurz abzuschalten, ins Wohnzimmer, das immer noch kalt und abweisend wirkt, beladen mit der Erinnerung an Pippa. Er wünschte, sie hätte sehen können, was sich gerade unten abgespielt hat.
    Es kommt ihm erbärmlich vor, sich nach jemandem zu sehnen, der eigentlich kaum hier war, und absurd, dass er – wie immer offensichtlicher wird – vielleicht nie wieder mit ihr in Kontakt treten kann. In mancher Hinsicht ist London so klein: die kleinste aller großen Städte, hat er mal jemanden sagen hören. Und trotzdem, denkt Xavier verzagt, ist die Stadt ohne weiteres groß genug, um jemanden darin für immer zu verlieren. Besonders, wenn dieser Jemand es so will.
    Er sieht zum Fenster hinaus und muss plötzlich an den Jungen mit der Narbe denken, den er neulich durch jene überraschenden Tränen hindurch gesehen hat. Meine Güte, denkt Xavier, dem es wie Schuppen von den Augen fällt, das war doch der Junge, den sie im Schnee verprügelt haben. Davon stammt die Narbe. Das hätte ich verhindern können.
    Mit diesem Gedanken, der ihm nicht mehr aus dem Kopf geht, wendet sich Xavier wieder seinen E-Mails zu. Er rät einem Wirtschaftsstudenten, einen Gang runterzuschalten und er selbst zu sein, statt dem Objekt seiner unerwiderten Liebe jeden Tag ein Geschenk zu schicken. Er empfiehlt einem Mann, der sich im Dunkeln fürchtet, eine Hypnosetherapie, und versichert ihm, das sei eine weit

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