Elf Leben
Fenster einer der vielen italienischen Bars von Soho sitzt Maggie Reiss mit ihrer Freundin Stacey Collins, im Abendrot eines Ganztagsbesäufnisses, das schon begann, bevor man ihnen die Mittagskarte gereicht hatte. Stacey ist Journalistin. Die beiden kennen sich seit zwanzig Jahren. Maggie hat Stacey gestern Abend angerufen, um ihr zu sagen, dass sie ausgehen müssen, sie habe ihr etwas zu erzählen. Im Zickzack sind sie durch das Gewimmel von Bar zu Bar gewankt; das ist der vierte Boxenstopp. Stacey macht ein seltsames Gesicht, als könne sie sich nicht entscheiden, ob sie entsetzt oder hocherfreut sein soll.
»Und du bist dir ganz sicher?«
»Noch nie war ich mir wegen etwas so sicher, wie sie im Film immer sagen.«
»Wenn du mir irgendwas erzählst, was ich verwenden kann, muss ich es verwenden, das ist dir klar, oder? Und wenn es einmal raus ist, kannst du es nicht mehr zurückholen. Und man weiß nie, was es für Folgen hat, wer da alles mit reingezogen wird.«
»Genau darum geht es ja. Wenn ich dir das alles erzählt habe, bricht die Hölle los. Die Leute werden mich hassen«, johlt Maggie vergnügt. »Und ich bin raus aus dem Laden! Mich kümmert es einen Scheiß!«
»So einfach ist das nicht, Maggie. Die Leute werden einen richtigen Hals auf dich haben. Eine Therapeutin, die die Geheimnisse ihrer Patienten ausplaudert … ich meine, das gibt es einfach nicht. Niemand tut das.«
»Niemand tut das, weil sie alle um ihre Karriere bibbern. Nicht aus Respekt gegenüber den Klienten. Gut, in manchen Fällen vielleicht schon. Aber meist aus Angst. Und die hab ich nicht. Weil ich das nicht mehr machen will. Nein: Ich mache das nicht mehr. Es ist vorbei, Ende.«
»Du hast doch bestimmt auch ein paar Klienten, die du … na ja, die dir wirklich am Herzen liegen, oder …«
»Ja, schon. Aber die Geheimnisse von denen erzähle ich dir nicht. Ich erzähl dir nur die von den Arschlöchern. Diejenigen, die ohne einen Therapeuten, der ihnen hilft zu legitimieren, was –« Sie hält inne, für einen Moment erstaunt über ihre Redegewandtheit, trotz des Alkohols. »Wenn ich ihnen nicht sagen würde, es ist in Ordnung, Sie haben dieses und jenes Problem, dann müssten sie einfach zugeben , dass sie Schweine sind, die ihre Frauen betrügen und die Leute anlügen oder verletzen. Mach dir also keine Sorgen um moralische Gesichtspunkte, Stace. Du bist Journalistin.«
»Das weiß ich. Ich mache mir auch keine Sorgen um moralische Gesichtspunkte, sondern um dich. Verstehst du nicht?«
»Doch. Brauchst du aber nicht.«
Stacey atmet lange aus und zuckt resigniert die Achseln.
»Okay. Aber jetzt erzähl noch mal: Wann hast du den Entschluss gefasst, deine gesamte Karriere hinzuschmeißen?«
»Das war im wahrsten Sinne des Wortes eine Scheißhausidee!«
Maggie lacht. Die beiden gackern so ausgelassen, wie nur Betrunkene es können, bis sich ein paar Leute umdrehen.
Eine blonde Frau in einem formlosen Regenmantel geht an der Bar vorbei und sieht Maggie und Stacey für einen Augenblick kühl an. Ihr missbilligender Ausdruck lässt die beiden aufs Neue loskichern. Es ist Pippa, auf dem Weg zur Preisverleihung eines Schwulenmagazins auf der Charlotte Street, wo sie kellnern wird. Als sie Maggie und Stacey den finsteren Blick zuwirft, sieht sie nicht – wie sie vermuten – die beiden an, sondern ihr eigenes, geschlauchtes Spiegelbild, und überlegt, ob sie sich bei Xavier melden soll. Beim Gedanken daran – an das Risiko, sich noch unglücklicher zu machen, und all das, was dadurch wieder aufgewühlt würde –, fühlt sie sich gleich doppelt so erschöpft und lässt die Idee fallen.
»Okay. Dann schieß los.«
»Okay.« Maggie legt das Kinn auf die Hände, eine Pose, die ihr so lange als Ich-bin-ganz-Ohr-Miene für undankbare Trottel gedient hat. »Womit soll ich anfangen, mit dem Politiker, der eine verheiratete Fernsehmoderatorin vögelt, mit dem Model, das für zwanzig Riesen pro Woche kokst, oder mit dem bekannten Sportler, der schwul ist und Callboys dafür bezahlt, dass sie den Mund halten?«
»Wow.« Stacey hat angebissen, egal wie zögerlich. »Gut. Mit dem Politiker und der Moderatorin, glaub ich.«
Maggie beugt sich vor und sagt einen Namen, der Staceys Mund einen Fingernagel breit aufgehen lässt.
»Bist du dir sicher?«
»Ob ich mir sicher bin? Ich hab diesen Scheiß doch lange genug mit ihm durchgekaut! Jede Woche, zwei Jahre lang!«
»Und die Fernsehmoderatorin, wer ist das?«
Diesmal beugt
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