Elf Leben
beginnen leise mit dem Einsingen. Der schweigsame Taxifahrer hat das Radio an, denselben Sender, auf dem Murray und Xavier gerade zu hören waren; jetzt läuft fast eine geschlagene Stunde lang Soulmusik, bevor dann ab fünf Uhr ihre Nachfolger, die nervtötend wachen Frühstücksmoderatoren, auf die Frühaufsteher einplappern. Das Taxi fährt aus einem Kreisverkehr heraus und setzt Xavier am Ende einer tristen Zufahrtsstraße ab. Xavier bezahlt den Mann, der schweigend sein Geld nimmt – wie der Fährmann auf dem Styx, denkt Xavier vage und klammert sich an eine fast vergessene Erinnerung aus Schulzeiten. Die vormorgendliche Luft ist kühl und still. Zitternd drückt Xavier den Klingelknopf und wünschte, er wäre in seinem Schlafzimmer in der Bayham Road oder würde mit einer Tasse Tee vor den Non-Stop-Nachrichten sitzen. Ein paar Häuser weiter bellt ein Hund.
Ein Mann mit schütterem Haar und einem schütteren Wollpullover öffnet die Tür.
»Ich kann nicht glauben, dass Sie wirklich da sind.«
Xavier tritt ein.
»Betrachten Sie es als eine Art Außenübertragung oder so.«
Xavier folgt Clive durch den Flur in die Küche, wo ein trostloser Stapel Hefte auf dem Tisch liegt. Der Wasserkocher und der Toaster stehen gelangweilt neben einem Mikrowellenherd, der hier eindeutig den Löwenanteil des Kochens übernimmt. Das Küchenfenster geht auf einen ungepflegten Garten hinaus, gesäumt von Brennnesseln, die sich unruhig im Wind wiegen, als warteten sie vergeblich auf die Herausforderung einer Gartenschere, wie ein Hund, der gern mit jemandem herumtollen würde.
»Es sieht ein bisschen unordentlich hier aus«, sagt Clive und reibt sich die Augen.
»Haben Sie mal über eine Putzfrau nachgedacht?«
Clive ist überrascht über diese direkte Frage, verständlicherweise.
»Nein, also, nein, daran habe ich noch nicht … nein.«
»Sorry, seltsame Frage vielleicht. Es ist bloß, weil ich selbst echt gute Erfahrungen damit gemacht hab.« Vorsichtig nimmt Xavier eins der orangefarbenen Hefte zur Hand. »Sie sind Mathelehrer? Ich war eher mäßig in Mathe.«
»Ich auch.« Clive lächelt dünn.
»Also, wie kommt es, dass Sie die Sendung hören, wenn Sie morgen um – wann, um sieben? Halb sieben? – wieder raus und zur Arbeit müssen?«
»Na ja, ich schlafe sehr schlecht. Deshalb hab ich irgendwann angefangen, Radio zu hören, zum –«
»Zum Einschlafen.« Clive sieht beschämt aus, aber Xavier lächelt. »Keine Sorge, das ist nichts Ungewöhnliches. Die meisten unserer Hörer sind todmüde. Deshalb kommen wir ja auch mit Murrays Beiträgen durch.«
»Wissen Sie, ich will ja nicht unverschämt sein, aber Murray ist wirklich nicht gerade –«
»Ich weiß.«
Clive stellt den Wasserkocher an. Während er zögerlich wie jemand, der nicht oft Besuch hat, in Schränken kramt und nervös die Regale absucht, fällt Xaviers Blick auf die Spüle, wo er ein bekanntes Logo entdeckt.
»So eine Tasse hab ich auch, im Studio. Die mit BIG CHEESE drauf.«
»Was? Ach die, ja. Die hab ich geschenkt bekommen, als ich Fachvorsitzender für Mathematik wurde.«
»Ah. Sie sind also mehr als nur Mathelehrer?«
»Es hat leider nicht funktioniert. Ich musste mir zwei Monate freinehmen, nachdem mich meine zweite Frau – nachdem wir uns scheiden ließen. Ich war nicht in der richtigen Verfassung. Deshalb hat jemand anders den Fachvorsitz übernommen und das ganz gut gemacht, na ja, und dann blieb er in dieser Position.«
»Sind nicht im Sommer eh zwei Monate Ferien? Eine Schande, dass sie sich nicht dann scheiden lassen konnte.«
Clive lacht laut auf. Soweit er sich erinnern kann, ist es das erste Mal seit Monaten, dass er lacht, erst recht in seiner eigenen Küche.
»Nein, sie hat die Scheidung im März eingereicht. Als das Trimester nicht mal zur Hälfte um war. Das sagt schon alles über meine zweite Ehe.«
»Erzählen Sie mir von den anderen.«
Die erste Frau, Angie, lernte Clive auf so mühelose und wunderbare Art kennen, dass er gar nicht mehr recht glauben kann, dass es sich wirklich so zugetragen hat, und findet, die Geschichte würde besser in das Leben eines anderen passen. Als junger Lehramtsstudent ging er am Flughafen Heathrow durch den Einreiseschalter, nach einer Woche auf Kreta zusammen mit ein paar Freunden aus dem Kurs. Er hatte blondes Haar, trug, wie man es damals nannte, eine Klubjacke und war besser in Form als die meisten seiner Freunde, die sich auf dem Flug betrunken hatten. Ein Mädchen
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