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Elf Leben

Elf Leben

Titel: Elf Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Watson
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irgendeiner Weise als Opfer fühlte, nein, er kam sich einfach nur dämlich vor, als hätte er, als er ins Leben hinauszog, seine Ziele zu hoch gesteckt und bekäme jetzt auf einen Schlag all seine Unzulänglichkeiten vor Augen geführt.
    Im Laufe der letzten Jahre, während er über die Tischreihen hinweg in ausdruckslose oder verächtliche Gesichter sah, geringfügige Fehler in Aufgabenheften rot anstrich und sich durch den kleinsten, den allerkleinsten Smalltalk im Lehrerzimmer stotterte, verhärtete sich Clives empörte Verwirrung darüber, ausgetrickst worden zu sein und die Regeln des Lebens zu spät begriffen zu haben, zu etwas Unerbittlicherem und Dauerhafterem: Elend.
    Als Clive Donald zum Ende dieser Kurzfassung seiner Lebensenttäuschungen kommt, dämmert es bereits – ganz leicht, als tropfte das Licht durch ein Loch im Himmel. Es ist einer jener Morgen, an denen schwer zu sagen ist, ob er bloß langsam in Gang kommt oder ob er der Beginn eines deprimierend düsteren Tags ist. Xavier wirft einen Blick auf die Uhr, und Clives Blick folgt ihm automatisch.
    »Ach du liebe Zeit. Es ist ja schon Viertel vor sieben.«
    Xavier sitzt schon etwas mehr als zwei Stunden in Clives Küche, aber er registriert die Uhrzeit ohne besondere Besorgnis.
    Clive wirkt aufgeregt.
    »Jetzt habe ich Sie aufgehalten –«
    »Nein, gar nicht«, sagt Xavier. »Ich bin aus freien Stücken gekommen, falls Sie sich erinnern. Es war schön, mit Ihnen zu reden.«
    »Ich, ich sollte«, murmelt Clive, »ich sollte mich fertigmachen zur Arbeit.«
    »Bevor Sie mich hierher eingeladen haben, hatten Sie also vor, nach zwei Stunden Schlaf zur Arbeit zu fahren, oder … oder was genau?«
    Clive seufzt.
    »Ich wollte, äh …«
    Aber es würde zu blöd klingen, es laut auszusprechen.
    »Ich war ziemlich unglücklich, wie Sie wissen«, setzt Clive noch einmal an, »und da dachte ich mir …«
    Xavier nickt; er hat so etwas schon weit öfter gehört als die meisten Leute.
    »Und trotzdem machen Sie sich Sorgen, dass Sie zu spät zur Arbeit kommen könnten?«
    Clive verzieht das Gesicht.
    »Wenn ich das richtig verstanden habe, wären Sie um einiges zu spät gekommen, wenn –«
    »Das ist mir peinlich. Es ist doch lächerlich, über so was zu sprechen.«
    »Wenn ich gerade im Radiomodus wäre«, entgegnet Xavier nüchtern, »würde ich sagen, dass Beschämung über Ihre Gefühle eher Teil des Problems als Teil der Abwehr dagegen ist. Aber da ich das nicht bin, schlage ich einfach vor, Sie gehen heute nicht zur Arbeit.«
    »Was?«
    »Melden Sie sich krank. Erzählen Sie ihnen irgendeine Ausrede.«
    »Aber ich habe doch Unterricht.«
    »Klar. Sie sind Lehrer. Aber es ist ein einziger Tag.«
    Clive ist sichtlich hin und her gerissen. Er fährt sich mit dem Finger über die Stirn.
    »Sie mögen Ihre Arbeit nicht einmal.«
    »Es geht aber nicht, dass die Leute ihre Arbeit nicht machen, weil sie sie nicht mögen. Das Land käme zum Stillstand.«
    Xavier lächelt.
    »Okay, mag sein. Aber Sie können Ihre heute ruhig mal nicht machen.«
    Wieder zögert Clive, dann nickt er.
    Sie gehen in kleinen Kreisen über den taufeuchten Rasen, der dunkle Spuren am Saum von Clives Cordhose hinterlässt. Hinter dem Zaun, der den Garten absteckt, dröhnt der Verkehr in einen neuen Morgen hinein.
    »Mit Ihnen zu reden, ganz ehrlich, das war –«, sagt Clive und blickt auf seine vom Tau gedunkelten Schuhe, »wissen Sie, es ist sehr wie in Ihrer Sendung, ich meine, äh, geteiltes Leid …«
    Xavier denkt an Murray, der über dieses Klischee manchmal Witze reißt – dass geteiltes Leid zwei Leute unglücklich macht, was selbst schon wieder ein Klischee ist.
    »Ich habe eigentlich gar nichts gemacht.«
    »Jedenfalls bin ich sehr … ich bin Ihnen sehr dankbar. Ich wollte Sie nicht, na ja, gewissermaßen unter Druck setzen, indem ich andauernd in der Sendung anrufe. Und mit den ganzen E-Mails und so. Ich wusste bloß ehrlich nicht mehr, was ich tun soll.«
    »Ich bin froh, dass ich helfen konnte.«
    »Sie kennen diese Unterhaltung bestimmt schon in- und auswendig.«
    »Eigentlich nicht.« Xavier stippt mit der Schuhspitze gegen ein paar Grashalme. »Bis vor gar nicht so langer Zeit war ich eher der Ansicht, dass kaum etwas von dem, was ich sage, großartig etwas bewirkt. Oder dass es zumindest nur eine Art … Trockenübung ist. Verstehen Sie? Ich konnte mir nicht mehr vorstellen, dass ich tatsächlich etwas ändern kann. Es war halt einfach nur mein

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