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Elf Zentimeter

Elf Zentimeter

Titel: Elf Zentimeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Scheiblecker
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Klitschko-Brüder. Andere rackerten sich mit Hanteln ab und machten Liegestütze bis zum Einknicken und blieben doch dünne Männchen.
    Aber darauf wollte ich es ankommen lassen. Den Willen hatte ich. Es ging schließlich darum, ein Trauma aufzulösen, statt es womöglich an meinen Sohn weiterzugeben. Es ging im Grunde um alles. Um mein Leben. Ich wollte nicht eines Tages am Sterbebett liegen und mir denken: Wenn mein Schwanz etwas länger gewesen wäre, wäre mein Leben vielleicht ganz nett gewesen. Und es ging ja auch nur um »etwas« länger. Es ging nicht um ein medizinisches Wunder. Zweieinhalb bis drei Zentimeter, und schon wäre ich dabei, im guten Durchschnitt, dachte ich. Dann könnte ich anfangen, mich mit dem Rest von mir zu befassen.
    Bei der Ausdauer hatte ich allerdings von Anfang an Zweifel. Ich trauerte den Jahren nach, in denen ich nichts getan hatte. Drei Jahre und alles wäre vielleicht jetzt schon gut. Die drei Jahre hinter mir erschienen mir so verdammt kurz, die drei vor mir so verdammt lang.
    Immerhin hatte ich bei der Bahn und bei der Post strukturiert zu arbeiten gelernt, und das wandte ich jetzt auch bei der Arbeit an mir selbst an. Zuerst sah ich mir einen Haufen Videos an, in denen Männer die Melkmethode vorzeigten. Ich hoffte dabei, dass nie eine Frau auf so etwas stoßen würde. Mit den Augen einer Frau sah das alles wohl furchtbar erbärmlich aus. Wenn es funktionierte, kam es darauf aber vermutlich nicht an.
    Wer ein Ziel hat, braucht auch noch Mut, und in meinem Fall war es eben der Mut zur Erbärmlichkeit. Ich ließ die Hose bis zu den Knöcheln herunter, setzte mich auf mein Bett und betrachtete mit einem Seufzen meinen Schwanz.
    »Du machst es mir nicht leicht«, sagte ich zu ihm.
    Ich formte mit dem Daumen und dem Zeigefinger meiner rechten Hand einen Kreis, um damit die Durchblutung ein wenig anzuregen. Mein Schwanz reagierte folgsam. Es wunderte mich in diesem Moment beinahe.
    »Ich weiß, dass ich es dir auch nicht leicht mache«, sagte ich zu ihm.
    Ich unterbrach die Prozedur noch einmal, um mich meiner Hose gänzlich zu entledigen und meine Tür abzuschließen. Ich stellte mir vor, wie meine Großmutter wieder einmal hereinkommt, ich vor Schreck über meine Hose stolpere und mit nacktem Unterleib der Länge nach hinschlage, während sie auf ihre naive Art die Sache auf den Punkt bringt: »Es klappt wohl nun doch wieder nicht so gut mit den Frauen.«
    Eine Weile melkte ich vor mich hin. Was für eine stupide Tätigkeit. Ein Mann, der seinen Schwanz melkt, kann dabei nicht einmal intelligente Überlegungen anstellen, über seine Zukunft zum Beispiel.
    Schließlich kam ich auf die Idee, das Melken mit einem anderen Training zu kombinieren. Demnächst würde ich mit meinem schon fertigen Programm »Workaholic« bei einem Wettbewerb für Nachwuchskabarettisten teilnehmen, und dafür gab es noch einiges Grundlegendes zu tun. Mein Vater meinte immer, dass ich unbedingt darauf achten sollte, nicht mit der Zunge zu schnalzen und an den Satzanfängen keinesfalls leise Schmatzgeräusche zu machen. Die würden durch das Mikrofon extrem verstärkt und ziemlich penetrant klingen.
    Während ich mit einer Hand melkte, schlug ich mit der anderen einen Band mit Liebesgedichten auf, den mir Sabine zum neunzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Sie hat mir oft daraus vorgelesen. Ich erinnerte mich an ihre Stimme, mit der Rechten am Schwanzansatz. Jetzt würde ich diesen Band für Sprachübungen gebrauchen. Weil ich nur eine Hand frei hatte, begann ich dort zu lesen, wo sich das Buch zufällig aufgeschlagen hatte.
    Joachim Ringelnatz:
Ich habe dich so lieb
     
    Ich habe dich so lieb!
    Ich würde dir ohne Bedenken
    Eine Kachel aus meinem Ofen
    Schenken.
     
    Ich habe dir nichts getan.
    Nun ist mir traurig zu Mut.
    An den Hängen der Eisenbahn
    Leuchtet der Ginster so gut.
     
    Vorbei – verjährt –
    Doch nimmer vergessen.
    Ich reise.
    Alles, was lange währt,
    Ist leise. (…)
    »Schön!«, hörte ich auf einmal die vertraute Stimme meiner Großmutter.
    Ich fiel beinahe in Ohnmacht.
    Als hätte ich es geahnt, stand sie draußen vor der Tür und drückte die Klinke nach unten.
    »Ich übe, Oma«, sagte ich laut.
    »Gut so, lieber Stefan«, sagte sie. »Mach nur was Ordentliches aus dir.«
    Danke, lieber Gott, dass du mich die Tür abschließen hast lassen, dachte ich, während ich nach dem ersten Schreck weitermelkte. Wenn meine Großmutter mich erwischt hätte, wäre ich sicher ratlos gewesen.

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