Elfenbann
das Gebäude in weiten Teilen stützten, aber je näher sie kam, umso genauer konnte sie erkennen, wie feine Stränge aus den Ranken sprossen und den glänzenden weißen Stein umgarnten, als hielten sie das Schloss in einer liebevollen Umarmung. Noch nie hatte Laurel ein Bauwerk gesehen, das so lebendig wirkte!
Oben am Hang gelangten sie zu einem riesigen weißen Torbogen. Rechts und links lagen die Ruinen einer einst sicherlich großartigen Mauer verstreut, und als sie den Innenhof betraten, wurde offensichtlich, dass sie von Zerstörung umgeben waren. Bröckelnde Überreste von Statuen, Springbrunnen und Mauerteilen ragten in unregelmäßigen Abständen aus dem schön gepflegten Rasen. Eine solche Baufälligkeit war Laurel in Avalon bisher nirgends aufgefallen. In der Akademie wurde alles, was kaputtging, auf der Stelle repariert und jedes Ding sorgsam behandelt. Auch überall sonst in Avalon wurde es so gehandhabt – nur nicht hier im Palast. Laurel hatte keine Ahnung, warum.
Drinnen wuselten jedoch jede Menge Elfen in frisch
gebügelten weißen Uniformen umher, die sämtliche Flächen polierten und Hunderte von Topfpflanzen gossen, die in kunstvollen Gefäßen wuchsen. Hier herrschte die gleiche vertraute Ordnung, wurde der gleiche Aufwand betrieben, wie Laurel es von der Akademie gewohnt war. Sie folgte Yasmine mit Tamani zum Fuß einer breiten majestätischen Treppe. Je höher sie stiegen, umso ruhiger wurde es. Erst dachte Laurel, das läge an der Akustik, doch kaum waren sie auf der Hälfte der Treppe angelangt, war es vollkommen still.
Laurel wagte einen Blick über die Schulter. Tamani folgte ihr auf dem Fuß, aber er verkrampfte seine Hände, die eben noch gezittert hatten, so sehr, dass sie glaubte, es müsse ihn schmerzen. All die Elfenbediensteten, die sich unten zu schaffen machen sollten, stierten reglos zu ihnen empor und waren mitsamt den Staubtüchern und Gießkannen zu Statuen erstarrt. Sogar die Am fear-faire waren am Treppenabsatz stehen geblieben und folgten Yasmine nicht mehr auf dem Weg nach oben.
»Wir gehen in die oberen Räume des Winterpalastes«, flüsterte Tamani gestresst. »Niemand darf sie betreten. Außer Winterelfen natürlich.«
Laurel sah die Treppe hinauf. Sie führte entgegen ihrer Erwartung nicht etwa in eine weitläufige Halle, sondern endete vor einer gewaltigen Flügeltür. Dort, wo sie durch den schweren Rankenvorhang blitzte, war sie großzügig vergoldet. So eine große Tür hatte Laurel noch nie gesehen. Sie sah viel zu schwer und zu mächtig aus, als dass Yasmine sie irgendwie öffnen könnte.
Doch als sie die Tür erreichten, zögerte die junge Elfe
keine Sekunde. Mit den Handflächen nach vorn streckte sie die Arme aus und machte eine sanfte schiebende Bewegung, ohne die Tür anzufassen. Es sah jedoch wirklich anstrengend aus, als läge etwas Abwehrendes in der Luft. Nach und nach schwenkten die Flügel unter dem Rascheln der Pflanzen gerade so weit zur Seite, dass sie im Gänsemarsch hindurchgehen konnten.
Auffordernd sah Yasmine sich zu Laurel um, die nach kurzem Zögern durch die Tür schlüpfte. Tamani folgte ihr widerstrebend.
Es fühlte sich an, als würde sie wieder unter dem Kronendach des Weltenbaums wandeln. Die Luft war lebendig vor Magie – vor Macht .
»Wir gewähren nur selten anderen Elfen Einlass in die oberen Gemächer«, sagte Yasmine gelassen. »Aber Jamison glaubte, nur hier oben könnte mit Sicherheit geheimgehalten werden, was so wichtig ist, dass unser Pfropfreis ihn unbedingt sprechen will.«
Allmählich bereute Laurel ihre überhastete Forderung, hierher gebracht zu werden. Was würde Jamison tun, wenn er erfuhr, warum sie gekommen waren? War eine Wildelfe an Laurels Schule diesen Aufwand wert?
»Er ist hier hinten«, sagte Yasmine und winkte ihnen, ihr durch einen höhlenartigen Raum zu folgen, der üppig in Weiß und Gold gehalten war.
Auf mehreren Alabastersäulen war eine eklektische Auswahl von Gegenständen ausgestellt: ein kleines Gemälde, eine mit Perlen verzierte Krone, ein glänzender Silberkelch. Laurel betrachtete mit schmalen Augen eine langhalsige Laute aus sehr dunklem Holz. Sie legte den
Kopf schräg, trat von dem dunkelblauen Teppich, der schnurstracks durch den Raum führte, hinunter und ging unwiderstehlich anzogen auf die Laute zu. Vor dem Instrument blieb sie stehen, überwältigt von dem Wunsch, die zarten Saiten zu zupfen.
Als sie gerade die Hand danach ausstrecken wollte, packte Yasmine ihr Handgelenk
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