Elfenbann
weicher, als er so von Herzen lächelte, dass es Laurel geradezu wehtat. Doch er verbeugte sich in dem Augenblick, in dem sich ihre Blicke trafen, und Laurel sah weg. Sie konnte diese Geste der Unterwerfung an ihm nicht ertragen. Ihr stolzer, starker Tamani!
Yasmine trat einen Schritt zurück und forderte sie mit einer Handbewegung auf, durch das Tor zu gehen. Doch als Laurel und Tamani an ihr vorbei waren, folgte sie ihnen nicht, sondern begrüßte noch jemanden. Laurel drehte sich um und bemerkte Shar, der sich tief verbeugte.
»Hauptmann?«, fragte Yasmine.
»Wenn du schon hier bist, könnte ich vielleicht das Hokkaido-Tor benutzen? Ich werde rechtzeitig hier warten, wenn du mit dem Pfropfreis zurückkommst«, bat Shar.
»Selbstverständlich«, erwiderte Yasmine.
Shar rauschte durch das Tor. Als es sich danach schloss, schwappte die Dunkelheit in den Raum hinter den Gitterstäben.
»Es wird noch einen Moment dauern, bis die Wachposten in Hokkaido die Öffnung vorbereitet haben«, sagte eine kleine dunkelhaarige Wächterin, die sich vor Yasmine verbeugte. Yasmine nickte nur, während sich die Wachposten in Avalon um das gen Osten gerichtete Tor versammelten. Noch nie zuvor hatte Laurel gesehen, wie eins der anderen Tore geöffnet wurde.
»Du willst sie besuchen, oder?«, fragte Tamani barsch.
Shar antwortete mit einem bösen Blick.
»Tu das nicht, Shar«, sagte Tamani. »Danach bist du immer wochenlang deprimiert. Das können wir uns im Moment nicht leisten. Wir müssen uns konzentrieren.«
»Ich gehe wegen der neuen Elfe zu ihr«, sagte Shar ernst. Nach einer kurzen Pause sah er zu Laurel. »Wenn diese neue Elfe als Mensch in Japan aufgewachsen ist, könnte ihr plötzliches Auftauchen ein Beweis dafür sein, dass sie einen Schild benutzt. Wenn ja, dann wissen sie vielleicht etwas darüber. Auch wenn es dir nicht gefällt, so haben sie doch Kenntnisse und Erfahrungen, über die wir nicht verfügen. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um Avalon zu schützen, Tam. Erst recht, wenn …« Er beendete den Satz nicht. »Für alle Fälle«, flüsterte er.
»Shar«, setzte Tamani an. Doch dann presste er die Lippen aufeinander und nickte.
»Hauptmann?« Yasmines seidige Stimme unterbrach sie.
»Ich komme«, sagte Shar.
Jenseits des Tores, das Yasmine offen hielt, standen Wachposten im Halbkreis, die jenen fast aufs Haar ähnelten, die Laurel in Empfang genommen hatten, außer dass sie langärmelige Sachen und dicke Kniehosen trugen – ein seltsamer Anblick bei Elfen. Ein Schwall eiskalter Luft drang durch das Tor, so knackig kalt, dass Laurel scharf einatmete. Sie sah Shar an, der bereits schnellen Schrittes durch das Tor ging und einen bauschigen Mantel aus dem Rucksack holte. Dann war er verschwunden und das Tor schloss sich hinter ihm.
»Hier entlang«, bat Yasmine und führte sie über einen
gewundenen Pfad aus dem von Mauern umschlossenen Garten. Sechs blau gekleidete Wächter begleiteten sie – Yasmines Am fear-faire , die Leibwächter, die die junge Elfe rund um die Uhr beschützten. Allein deshalb hätte Laurel keine Winterelfe sein wollen, so mächtig sie auch sein mochten. Das bisschen Privatleben, das ihr geblieben war, bedeutete ihr viel.
Sie gingen schweigend dahin und traten endlich durch einen Durchgang in den Steinmauern, die um die Tore herum gebaut waren, in die üppige Landschaft von Avalon. Laurel blieb stehen, um die süße Luft der Insel einzuatmen; die umwerfende Perfektion der Natur in Avalon verschlug einem den Atem. Der Abend dämmerte bereits und ein fantastischer Sonnenuntergang färbte den westlichen Horizont. »Es tut mir leid, dass Jamison euch nicht persönlich am Tor empfangen konnte«, sagte Yasmine zu Laurel, »aber er hat mich gebeten, euch zu ihm zu bringen.«
»Wo ist er?«, fragte Laurel. Es widerstrebte ihr, Jamison bei einem wichtigen Unterfangen zu stören.
»Im Winterpalast«, antwortete Yasmine.
Laurel blieb ruckartig stehen und ließ den Blick den Hügel hinauf schweifen, wo die marmornen Turmspitzen des Winterpalastes in den Himmel ragten. Sie sah sich zu Tamani um. Er starrte stur nach unten, aber ein leichtes Zittern seiner Hände, die er vor dem Bauch gefaltet hatte, verriet, dass ihn die Vorstellung, das Heiligtum der Winterelfen zu betreten, noch mehr erschreckte als sie.
Sieben
L aurel hob den Blick zum Winterpalast, während sie sich ihm auf einem steilen Weg näherten. Aus der Ferne hatte sie bereits die grünen Ranken gesehen, die
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