Elfenbann
gezwungenermaßen hier saßen. Er öffnete sogar den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn dann aber wieder und wandte sich erneut ab.
»Sag’s doch. Wir sollen schließlich unsere Meinungsverschiedenheiten
klären, oder?« Tamani kicherte. »Obwohl Mr Roster wahrscheinlich etwas anderes im Sinn hatte als das hier.«
David warf Tamani einen kritischen Blick zu, ohne auf den Scherz einzugehen.
Auf einmal traf es Tamani wie ein Schlag, wie jung David aussah. Hin und wieder vergaß er, dass David, Laurel und ihre Freunde jünger waren, auf mancherlei Weise sogar viel jünger als Tamani. Er spielte seine Rolle als menschlicher Schüler, aber in Wirklichkeit war er ein hochgestellter Wachposten. Er kannte seinen Platz, er wusste, wo er stand, mit einer Sicherheit, die Menschen unbekannt war. Die ungeheure Freiheit, die Menschenkinder genossen, musste sie ja lähmen. Kein Wunder, dass sie so lange brauchten, bis sie endlich erwachsen waren.
»Ich will dir nur helfen, es zu verstehen, das ist alles«, sagte Tamani.
»Auf deine Hilfe kann ich verzichten.«
Tamani nickte. Er mochte David nicht, aber es war schwer, ihn weiter zu hassen, seit er ihm nicht mehr im Weg stand. In vielerlei Hinsicht waren sie sogar einer Meinung. Und gegen Davids Geschmack ließ sich nun wirklich nichts sagen.
Eine Viertelstunde verging in vollkommener Stille. Eine halbe Stunde. Tamani überlegte schon, wie er unbemerkt die letzte halbe Stunde schwänzen könnte, als David auf einmal den Mund aufmachte.
»Wir sind nicht die einzigen, die keine Kinder bekommen können – nimm zum Beispiel Laurels Eltern.«
Tamani hatte das mit den Kindern längst vergessen.
Schon merkwürdig, dass David nach fast zwei Tagen des Schweigens ausgerechnet darauf ansprach. »Das stimmt, aber …«
»Dann adoptiert man eben ein Kind. Oder bleibt zu zweit. Man muss nicht unbedingt Kinder haben, um glücklich zu sein.«
»Kann sein«, gab Tamani zu. »Dazu kommt aber, dass sie hundert Jahre länger lebt als du. Willst du wirklich, dass sie dir beim Sterben zusieht? Du willst Kinder adoptieren, die ebenfalls vor ihr sterben würden? Und zwar im hohen Alter, während sie keinen Tag älter als vierzig aussieht?«
»Glaubst du etwa, darüber hätte ich nicht nachgedacht? So ist Leben. Für dich natürlich nicht, ihr habt ja diese perfekten Arzneien, nicht wahr?« Er machte sich über Tamani lustig, der sich darüber ärgerte – hatte David nicht auch schon von der Elfenmedizin profitiert? »Hier ist es aber anders. Man weiß eben nicht, ob man im nächsten Monat stirbt oder nächste Woche oder in achtzig Jahren. Man geht das Risiko ein, und es ist es wert, solange man sich wirklich liebt.«
»Manchmal reicht Liebe nicht aus.«
»Das redest du dir doch nur ein.« David sah Tamani direkt in die Augen. »Weil du dich dann in der Sicherheit wiegen kannst, am Ende zu gewinnen.«
Das war ein feiner Nadelstich. Tamani hatte es sich in den letzten Jahren wirklich immer wieder vorgesagt, und zwar oft. »Ich habe von Anfang an daran geglaubt, dass ich gewinne«, sagte Tamani leise. »Die Frage war nur, wann .«
David gab ein verächtliches Geräusch von sich und senkte den Blick.
»Weißt du noch, was ich über Lancelot gesagt habe?«
»Er war Guineveres Elfenwächter«, antwortete David. »Jedenfalls in deiner Version der Geschichte.«
Tamani seufzte. Der Junge war schwierig, doch immerhin hörte er zu. »Fear-Gleidhidh bedeutet tatsächlich Wächter, aber nicht unbedingt so, wie du glaubst. Fear-Gleidhidh heißt viel mehr Aufpasser oder noch besser Beschützer. Es gehörte zu Lancelots Aufgaben, Guineveres Leben zu schützen, aber er musste auch Avalon beschützen und alles tun, damit Guinevere mit ihrer Mission Erfolg hatte und nicht etwa aufgab.«
»Und du bist Laurels Fear-Gleidhidh. «
»Ich weiß nicht, wie viel Laurel dir darüber erzählt hat, aber ich kannte sie … schon vorher. Von dem Tag an, als Laurel Avalon verließ, habe ich alles getan, um ihr persönlicher Wächter zu werden. Jede Entscheidung in meinem Leben, jede Minute meiner Ausbildung war darauf ausgerichtet. Denn ich wollte unbedingt, dass sie von jemandem bewacht wird, der sie liebt, und nicht von jemandem, der gleichgültig seine Aufgabe erledigt. Wer könnte sie besser anleiten und beschützen als ich, der ich sie so sehr liebe?«
David schüttelte kläglich den Kopf und wollte etwas sagen.
Tamani schnitt ihm das Wort ab. »Doch ich habe mich geirrt.«
Interesse und Misstrauen
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