Elfenblick
Heftigkeit, als wäre es das letzte Mal. Rikjana trat vor Mageli und drückte ihr ohne ein Wort einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. Dann drehte sie sich um und eilte über eine Hängebrücke davon.
»Hier entlang.« Ondulas zeigte auf eine an dieser Brücke befestigte Strickleiter. Mageli warf einen Blick nach unten. Die Leiter hing bis zum Grund der Höhle hinab. Verwundert schaute sie Ondulas wieder an.
»Gehen wir nicht durch die Stadt?«
»Ganz sicher nicht! Wir wollen wenigstens eine gewisse Chance haben, heil anzukommen, oder? Und wenn wir einfach so durch eines der Tore von Enigmala hinausmarschieren, senken wir diese Chance gen null.« Noch einmal deutete er mit Nachdruck auf die Strickleiter, und Mageli beeilte sich hinunterzuklettern.
Der Boden war erdig weich, genau wie Mageli ihn von ihrem ersten Ausflug in die Elfenstadt in Erinnerung hatte, als sie aus Versehen hier unten gelandet war. Und die herabhängenden Wurzeln erinnerten sie sofort wieder an einen Urwald, in dem sie keinerlei Orientierung hatte. Ondulas schien sich auszukennen und eilte mit einer solchen Geschwindigkeit durch das wild wuchernde Labyrinth, dass Mageli Mühe hatte, ihm zu folgen.
»Wohin gehen wir?«, rief Mageli ihm hinterher, erntete aber nur eine unwirsche Aufforderung, leise zu sein. Richtig, sie wollten ja nicht auffallen. Und auch wenn weit und breit niemand in diesem Gewirr zu sehen war, war es sicher besser, vorsichtig zu sein.
Bereits nach kurzer Zeit blieb Ondulas unvermittelt stehen. Mageli schaute sich neugierig um, doch nichts unterschied diese Stelle vom Rest des Wurzelurwalds. Ondulas ging in die Hocke und tastete mit seinen flachen Händen den Erdboden ab. Auch auf dem Boden konnte Mageli keine Besonderheiten entdecken. Ondulas nickte jedoch zufrieden, schloss die Augen und fing an, ganz leise zu summen. Mageli erkannte die Melodie: Es war das gleiche Lied, das er gesungen hatte, als er die Rose aus dem Holz heraus geformt hatte. Jetzt wusste sie, was hier passierte. Magie! Dieses Mal beobachtete sie gespannt, was geschehen würde.
Und tatsächlich: Das Lied war gerade von Ondulas’ Lippen verklungen, als der Erdboden begann, seine Struktur zu verändern. Im ersten Moment dachte Mageli, der Boden würde durchsichtig werden, erkannte dann aber, dass die Erdbröckchen sich bewegten und zur Seite rutschten, bis ein kreisrundes Loch sichtbar wurde. Es war nicht groß, gerade breit genug, dass jemand von Magelis Statur hineinrutschen konnte – und genau das schien Ondulas von ihr zu erwarten. Ungeduldig winkte der Elf sie heran und zeigte auf das schwarze Loch im Boden.
»Los!«
Mageli zögerte. Sie war inzwischen einiges gewöhnt, aber dieser winzige, dunkle Einstieg, von dem sie keine Ahnung hatte, was sie dahinter erwartete, verursachte ihr dennoch ein ungutes Gefühl. Andererseits war sie bei Ondulas, und der Elf wollte, dass sie in dieses Loch kletterte. Ihm konnte sie wohl vertrauen. Mageli atmete tief ein, setzte sich an den Rand des Einstiegs und ließ sich hineingleiten, die Arme eng an den Körper gepresst.
Kaum hatte ihr Po den Boden verlassen, fiel sie. Mageli wollte schreien, unterdrückte den Impuls aber im letzten Augenblick. Gerade erst hatte ihr Sturz begonnen, da war er auch schon wieder zu Ende. Magelis Füße landeten auf steinernem Grund, und sie ging reflexartig in die Knie, um den Sprung abzufedern. Alles gut gegangen.
»Geh zur Seite«, zischte Ondulas von oben.
Ja, klar, aber wohin? Hektisch drehte Mageli sich herum, konnte aber kaum etwas erkennen, denn keine Leuchtsteinchen erhellten die Wände. Nur durch das kleine Loch über ihr fiel ein dünner Lichtstrahl. Direkt vor ihr schien ein schmaler Gang zu beginnen. Sie machte einen unsicheren Schritt in diese Richtung – gerade noch rechtzeitig, bevor Ondulas mit einem leisen Plumps hinter ihr auf dem Boden landete. Wieder ertönte das melodische Summen, die Erde schloss sich über dem Einstieg, und um Mageli herrschte pechschwarze Nacht.
»Warte.«
Mageli hörte, wie Ondulas etwas hervorkramte. Wieder das Summen. Als Mageli sich zu ihm umdrehte, glomm eine kleine bläuliche Flamme in der Hand des Elfen.
»Hier.«
Ondulas streckte ihr die Hand entgegen, und Mageli stellte erstaunt fest, dass darin ein flacher Stein lag, von dem das Leuchten ausging ‒ keine Flamme, wie sie zunächst angenommen hatte, sondern eher ein Glimmen, das sich aber überraschend weit ausbreitete und den Gang um Mageli herum ausreichend
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