Elfenblick
schwirrte. Das musste der Schock sein. Der setzte ja bekanntlich erst ein, wenn die Gefahr bereits vorüber war.
»Möchtest du vielleicht aufstehen?« Der Junge lächelte sie an, wobei sein einer Mundwinkel etwas weiter nach oben ging als der andere. Das Lächeln wirkte ein bisschen spöttisch, aber durchaus freundlich. Doch Mageli schüttelte heftig den Kopf. Sie war sich sicher, dass ihre Knie nachgeben würden, wenn sie jetzt versuchte aufzustehen. Wie peinlich!
»Gut, bleiben wir sitzen. Sag mal, kannst du sprechen? Dann könnten wir uns die Zeit mit einer Unterhaltung vertreiben.«
»Hmpf«, brachte Mageli heraus.
»Das ist ein Anfang.« Wieder dieses Lächeln. »Mein Name ist Erin. Und wie heißt du?«
»Mageli.« Langsam hatte sie sich wieder besser unter Kontrolle. Auch wenn sie fand, dass ihre Stimme wie ein rostiges Reibeisen klang.
»Ein schöner Name.«
»Na ja, eigentlich ist das nicht mein richtiger Name.« Mageli hatte keine Ahnung, warum sie ausgerechnet diesem Fremden erzählte, was sie sonst am liebsten verschwieg. »Meine Mutter dachte, es wäre eine tolle Idee, mich nach meinen beiden Großmüttern zu benennen. Margarethe-Elisabeth. Auch noch mit einem Bindestrich. Ziemlich gruselig. Also habe ich Mageli daraus gemacht.« Oh nein, dachte sie. Erst bringst du kein Wort heraus und dann textest du den armen Kerl mit deiner langweiligen Lebensgeschichte zu. Aber Erin schaute interessiert.
»Hast du vielleicht Lust, mir zu verraten, was du mitten in der Nacht allein im Wald machst, Mageli?«
»Ich war unterwegs zu meiner Freundin«, erklärte Mageli und kam sich ziemlich blöd dabei vor. »Eigentlich wollte ich das Rad nehmen, aber das hätte meine Mutter garantiert geweckt. Und weil ich die Würstchen gegessen habe, ist die gar nicht gut auf mich zu sprechen.« Ihr Erklärungsversuch musste für Erin ziemlich wirr klingen. Mageli zuckte mit den Schultern. »War wohl ’ne dumme Idee, schätze ich.«
Erins Mundwinkel hatten bei ihrem Geständnis gezuckt, jetzt schaute er wieder ernst. Mageli musterte ihn noch einmal genauer. Er hatte weite dunkle Hosen an, die in Stiefeln aus braunem, schuppigem Leder steckten, um die Unterarme lagen Stulpen aus dem gleichen Material. Über der Hose hing locker ein weites Hemd, das in der Taille mit einem breiten Ledergürtel zusammengebunden war, dessen glänzende Schnalle mit filigranen Mustern verziert war. Um Erins Hals lag ein schmaler silberner Reif, in den eine Vielzahl farbloser glitzernder Steine eingelassen war – waren das etwa Diamanten?
Im Vergleich zu ihrem Angreifer hatte er schmal auf Mageli gewirkt, doch unter dem weichen Stoff seines Hemdes zeichneten sich deutlich seine Muskeln ab. Mageli kannte niemanden, der in solchen Klamotten herumlief, und sie konnte sich gut vorstellen, welche fiesen Bemerkungen die Idioten in ihrer Klasse machen würden, wenn Erin so in der Schule auftauchte.
»Wohnst du hier in der Nähe?«, fragte sie.
»Nein.«
»Wo kommst du her?«
»Das ist schwer zu erklären.«
»Und was machst du eigentlich um diese Zeit im Wald?«
»Das ist noch schwerer zu erklären.«
Mageli spürte, wie sie ungeduldig wurde. Erin wollte ihr wohl nichts von sich erzählen.
»Ich finde Rätsel blöd«, maulte sie.
»Es tut mir leid.« Erin wirkte betreten. »Ich würde dir deine Fragen gern beantworten. Aber ich weiß wirklich nicht, wie ich hier gelandet bin. Ich weiß noch nicht einmal, wo ich mich hier befinde. Ich weiß nur, dass ich froh bin, dass ich rechtzeitig hier war, bevor dir etwas geschehen konnte.«
Mageli zitterte. Eine Gänsehaut bildete sich auf ihren Armen bei dem Gedanken daran, was alles hätte passieren können, wenn Erin nicht zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen wäre. Er schaute sie mit seinen Zauberaugen an – und plötzlich begriff sie, was noch darin lag und was sie im ersten Moment nicht erkannt hatte: eine tiefe, sorgsam verborgene Traurigkeit, die sie sich nicht erklären konnte.
»Danke«, flüsterte sie. »Das war wirklich mutig von dir!« Nervös schob sie eine Strähne hinters Ohr und strich sie sofort wieder nach vorn.
»Es war mir ein Vergnügen.«
Mageli fiel nichts ein, was sie darauf entgegnen sollte. Sie lag noch immer auf den rechten Ellenbogen gestützt am Boden, und plötzlich wurde ihr bewusst, wie unbequem diese Position war. Sie versuchte, sich mit der linken Hand abzustützen, um sich aufzusetzen. Doch sofort schoss wieder der Schmerz durch ihren Arm, sodass sie das
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