Elfenblick
hinlegen willst.«
»Darf ich, Herr Büttner?« Rosann hatte ihre schönste Unschuldsmiene aufgesetzt und lächelte den Mathelehrer entwaffnend an. Herr Büttner seufzte.
»Na gut, weil die Stunde sowieso gleich rum ist. Aber das nächste Mal, wenn ihr euch die ganze Zeit Briefchen schreiben müsst, macht es doch bitte so, dass ich es nicht bemerke.«
Von hinten aus der Klasse war lautes Lachen zu hören. Mageli strich sich mit beiden Händen die Haare ins Gesicht und starrte gebannt auf ihr aufgeschlagenes Mathebuch, während Rosann nach vorne an die Tafel ging und die Aufgabe in Windeseile löste. Gerade als sie sich wieder auf ihren Stuhl fallen ließ, klingelte es zur Pause.
»Also …«, drängte Rosann.
»Es gibt da ein kleines Problem«, gab Mageli zu.
»Nämlich?«
»Ich habe keine Ahnung, wie ich ihn erreichen kann.«
»Was? Du hast keine Telefonnummer oder E-Mail-Adresse oder irgendetwas von ihm?«, fragte Rosann entsetzt.
»Ich kenne nicht einmal seinen Nachnamen.«
»Manchmal zweifle ich an deiner Zurechnungsfähigkeit«, ächzte Rosann.
Ja, ich auch! , dachte Mageli.
Da sie nicht plante, sich an den Hausarrest zu halten, war es vielleicht am besten, gar nicht erst nach Hause zu fahren. Am Ende der sechsten Stunde ging Mageli also nicht zu den Fahrradständern, sondern reihte sich in die große Gruppe der Schüler ein, die zur Bushaltestelle drängten. Rosann hatte sie erzählt, sie wolle in die Stadtbücherei fahren, um sich neuen Lesestoff zu besorgen. So konnte sie sicher sein, dass Rosann sie nicht begleiten würde. Alles, was die Stadtbücherei an Büchern bot, rangierte weit unter Rosanns Niveau. Sie bestellte sich ihre Lektüre über das Internet: dicke Wälzer über Philosophie und Mathelehrbücher, die für Studenten an der Uni geschrieben waren.
Mageli hingegen fraß so ziemlich alle Bücher, die sie in die Finger bekam. Ihr Problem war eher, dass sie das meiste, was die kleine Stadtbücherei bereithielt, bereits gelesen hatte. Aber heute hatte sie ja ohnehin nicht vor, dorthin zu gehen.
An der Bushaltestelle wartete schon eine riesige Traube Schüler. Einige Fünft- und Sechstklässler kickten mitten im Gedränge eine leere Coladose hin und her, wobei sie ihre Ranzen als Tore benutzten. Natürlich rempelten sie ständig jemanden an, was vor allem die älteren Schüler mit wütenden Beschimpfungen quittierten. Die Fußballer ließen sich davon jedoch nicht beeindrucken. Mageli hatte fast den Eindruck, dass sie diejenigen, die besonders laut schimpften, besonders häufig anrempelten. Dazu gehörten auch Marc und Ben.
Die beiden standen mit Jessica und Melanie zusammen, die auch in Magelis Klasse gingen. Jessica zwirbelte mit den Fingern permanent in ihren platinblonden Haaren herum. Wahrscheinlich sollte das sexy wirken. Auch ihr pinkes, bauchfreies Shirt und die halsbrecherischen High Heels an ihren Füßen schrien nach männlicher Aufmerksamkeit. Mageli fand das Outfit unmöglich. Oder lag das nur daran, dass sie Jessica nicht mochte? Melanie war zwar ähnlich gekleidet, aber Mageli fand sie sonst in Ordnung. Zumindest nicht so fies wie Jessica.
Plötzlich drehte sich Marc zu einem der Jungen um, der ihn gerade zum wiederholten Mal angerempelt hatte.
»Jetzt reicht’s«, schnauzte er den Kleinen an. »Wenn dir deine Eltern kein Benehmen beibringen, muss ich das halt übernehmen.«
»Ey, lass das«, brüllte der Knirps, doch da hatte Marc ihn schon im Schwitzkasten. Er grinste Ben breit an. »Wollen wir der Müllabfuhr was zu tun geben?«
»Na klar.« Ben tat, als würde er sich in die Hände spucken, und rieb sie dann aneinander. Er schnappte sich die Beine des Jungen, der wild um sich trat und lauthals schrie. Die umstehenden Schüler unterbrachen ihre Gespräche und guckten interessiert zu. Als Marc und Ben den Fünftklässler hochhoben und zur nächsten Mülltonne trugen, teilte sich vor ihnen die Menge. Unter dem Gelächter der Umstehenden steckten sie den Kleinen mit dem Hinterteil voran in den Behälter und kehrten mit zufriedenen Gesichtern zurück zu Jessica und Melanie.
»Ihr blöden, blöden … Scheißkerle!« Der Junge lispelte vor Aufregung und zappelte wild mit den Beinen, ohne sich aus seiner unbequemen Lage befreien zu können. In diesem Moment bog der Bus um die Ecke. Die Horde der wartenden Schüler drängte nach vorn, jeder wollte möglichst als Erster in den Bus steigen. Der Junge in der Mülltonne war vergessen. »Hey, ich muss doch auch nach Hause.«
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