Elfenblick
Kopf. Was Ondulas und Rikjana ihr berichteten, erstaunte sie, weil es nicht dem Bild entsprach, das sie von der Elfenstadt gewonnen hatte. Zugleich beunruhigte es sie. Denn es erinnerte sie an das, was Erin ihr einmal wütend über seinen eigenen Vater, den König, erzählt hatte: dass ihm die Kraft fehlte, die Dinge in seinem Reich zum Besten seiner Untertanen zu lenken.
»Und warum seid ihr und eure Freunde nicht ebenfalls so kraftlos geworden?«
»Weil Rikjana, wie ich dir bereits gesagt habe, eine ausgesprochen talentierte Heilerin ist.« Ondulas zwinkerte seiner Freundin zu, die leicht errötete. »Sie hat sehr früh bemerkt, welchen negativen Einfluss das Leben unter Tage auf unsere Gemüter hatte, und hat ein gutes Stärkungsmittel für uns ersonnen. Du hast es selbst schon probiert.«
Mageli dachte an die Schale mit dem geheimnisvollen Gebräu, die Rikjana im Kreis ihrer Freunde entzündet hatte. Sofort fielen ihr wieder der angenehme Duft und die belebende Wirkung ein. Das war es also gewesen!
»Von was für Ungerechtigkeiten und Einschränkungen habt ihr denn eben gesprochen?«, setzte Mageli ihre Befragung fort.
»Oh, vielerlei«, sagte Ondulas spöttisch. »Dem guten Ferocius fallen immer neue Schikanen ein, mit denen er uns drangsalieren kann. So dürfen wir uns beispielsweise kaum aus Enigmala hinausbewegen. Wer es dennoch wagt, wird von Ferocius’ Schatten brutal eines Besseren belehrt. Du kannst dir vielleicht vorstellen, wie schwierig es ist, hier in der Stadt für alle Bewohner genug zu essen zu finden. Früchte und Pflanzen, wie wir sie früher genossen haben, gibt es ohnehin nicht unter der Erde. Aber auch die Vorräte an essbaren Pilzen, Moosen und Rinden sind begrenzt. Wir müssten eigentlich die Möglichkeit bekommen, diese auch in weiter entfernten Höhlen zu sammeln, aber das ist uns verboten!«
»Esst ihr denn kein Fleisch?«, wandte Mageli ein. Genügend Tiere lebten auch unter der Erde, wenn es nicht gerade Schafe und Rinder sein mussten. Doch die beiden starrten sie mit einem Ausdruck voller Ekel an.
»Fleisch?«, fragten sie gleichzeitig fassungslos. »Isst du etwa Fleisch?«
Mageli zuckte mit den Schultern. »Gelegentlich, warum nicht? Gegen ein paar leckere Würstchen hätte ich gerade nichts einzuwenden.« Tatsächlich verspürte Mageli schon wieder Hunger. Und Würstchen erschienen ihr allemal nahrhafter als die Suppe, die sie vorhin bekommen hatte.
»Brr!« Rikjana schüttelte sich. »Nun, vermutlich kann man dir deinen Geschmack nicht zum Vorwurf machen, nachdem du all die Jahre unter Menschen gelebt hast.«
Mageli wollte protestieren, besann sich dann aber eines Besseren: Es gab jetzt Wichtigeres, als über Würstchen zu diskutieren. »Das heißt, ihr und eure Freunde habt in der Vergangenheit schon versucht, euch gegen Ferocius zur Wehr zu setzen?«, zog sie ihre Schlüsse.
»So gut es geht, ja.« Ondulas hatte aufgehört, die Tischplatte mit seinem Messer zu malträtieren. Jetzt prüfte er vorsichtig mit dem Finger die Schärfe der Klinge. Das Ergebnis schien ihn zufriedenzustellen.
»Wir können allerdings nicht viel tun«, schränkte er ein. »Ferocius hat großen Einfluss, der König steht uneingeschränkt hinter ihm ‒ oder unter ihm, je nachdem, wie man es betrachtet. Rikjanas guten Ruf als Heilerin hat Ferocius vollständig ruiniert. Ich selbst wurde schon vor vielen Jahren aus der Palastwache geworfen. Das Einzige, was wir machen können, ist, mal hier und mal da zu helfen, wenn wir gebraucht werden. Du bist zum Beispiel nicht die Einzige, die Rikjana zusammengeflickt hat. Sie hat schon viele der Unseren behandelt, nachdem sie Ferocius’ Schergen in die Hände gefallen waren.«
»Aber es muss irgendetwas geben, was wir tun können!«, fuhr Mageli auf. Wieder dachte sie an Erin, der bleich und still in dem großen Bett lag.
»Tja.« Rikjana musterte sie kritisch. »Du wirst jedenfalls keine Möglichkeit haben, etwas auszurichten, wenn du noch nicht einmal weißt, womit du es zu tun hast. Ich denke deshalb, wir sollten zunächst deine magischen Gaben testen.«
Mageli zuckte zusammen. Das hatte Ondulas vorhin bei ihrem Spaziergang auch schon angedeutet. Prompt fühlte sie wieder dieses Ziehen im Bauch und merkte den Schweiß in ihren Handflächen. Prüfungsangst! Aber egal! Wenn sie Erin helfen wollte, dann musste sie herausfinden, wie. Und alles war besser, als nur herumzusitzen.
»Gut«, erklärte sie entschiedener, als sie sich fühlte. »Lass uns
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