Elfenblut
sondern gönnte sich den kleinen Luxus, den Moment einfach zu genießen.
Die andere fand ihre Fassung rascher wieder. »Lass mich raten«, begann sie in professionell vertraulichem Ton. »Du suchst ein neues Kleid, habe ich recht?«
Das war ein ungemein scharfsinniger Schluss, fand Pia, vor allem für jemanden, der nichts anderes verkaufte als Kleider. Bevor sie antwortete, ließ sie ihren Blick prüfend über die auf groben hölzernen Bügeln aufgereihten Kleider und Röcke hinter ihr schweifen. Eines erschien ihr hässlicher als das andere. Diplomatisch ausgedrückt.
»Sieht man das so deutlich?«, fragte sie und ahmte unbewusst eine von Bracks Angewohnheiten nach, indem sie ihre eigene Frage gleich in Gedanken selbst beantwortete: ganz eindeutig ja . Ihr schäbiger Umhang vermochte den zerschlissenen Fetzen darunter nicht wirklich zu verbergen, sondern musste die kundigen Blicke der Händlerin im Gegenteil wohl eher noch darauf aufmerksam machen, dass sie wortwörtlich in Lumpen gekleidet hergekommen war.
Ihr dunkelhaariges Gegenüber – eine junge Frau, kaum älter als sie, die vermutlich recht hübsch gewesen wäre, wäre sie zwanzig Zentimeter größer und ebenso viele Pfunde leichter gewesen – lächelte nur diplomatisch, signalisierte aber mit ihren Blicken etwas ganz anderes, und Pia trat noch einen Schritt näher an den Stand heran, um die ausgestellten Kostbarkeiten einer zweiten und etwas gründlicheren Inspektion zu unterziehen. Das Ergebnis fiel beinahe noch deprimierender aus als beim ersten Mal. Wenn es überhaupt noch eines Beweises dafür bedurft hätte, dass es Alica und sie in eine vollkommen fremde Welt verschlagen hatte, dann wären es diese Kleider gewesen. So etwas konnte doch niemand ernsthaft anziehen wollen!
Pia nahm (fast) alles zurück, was sie gestern Abend über das Kleid gedacht hatte, auf das sie in Bracks Truhe gestoßen war. Verglichen mit den schweren einheitlich grauen, braunen oder schwarzen … Säcken , die sie jetzt sah, war das Ding geradezu sexy.
»Vielleicht war das mit dem Schneidern doch keine so schlechte Idee von dir«, sagte Alica neben ihr. Sie wirkte regelrecht schockiert, und auch wenn die junge Frau auf der anderen Seite des Wagens ihre Worte nicht verstand, schien ihr der Ausdruck auf Alicas Gesicht doch genug zu sagen.
»Gefällt deiner Freundin unser Angebot nicht?«, fragte sie mit perfekt gespielter Enttäuschung. Pia fiel auf, dass sie einen raschen, aber sehr beredten Blick mit den beiden anderen Frauen tauschte, aber sie dachte sich nichts dabei.
»Nein, das ist es nicht«, sagte sie hastig. »Sie sind sehr hübsch, aber … ich fürchte, dass mir nichts davon passen wird.«
»Ja, deine Größe ist … wirklich ungewöhnlich«, pflichtete ihr die junge Frau bei. »Es muss schwer für dich sein, auch nur irgendetwas Passendes zu finden.« Heute Morgen, fügte ihr Blick hinzu, ist es dir jedenfalls nicht gelungen. »Aber du hast Glück. Meine Schwester ist eine ganz ausgezeichnete Schneiderin. Alles, was du hier siehst, hat sie gemacht.«
»Ja, das ist … beeindruckend«, murmelte Pia.
Die Verkäuferin zog mit einer routinierten Bewegung den Wagen zur Seite und gestikulierte ihr mit der anderen Hand zu, durch den Spalt zu treten. »Kommt einfach rein und sucht euch irgendwas aus, was euch gefällt. Bis morgen früh sind die Kleider in eurer Größe fertig.«
»Was hat sie gesagt?«, fragte Alica und winkte ab, noch bevor Pia auch nur Luft holen konnte, um zu antworten. »Nein, lass gut sein. Ich kann es mir denken. Aber das ist doch nicht dein Ernst, oder?«
Natürlich war es das nicht … doch wie es aussah, blieb ihnen kaum eine andere Wahl. Sie waren an verschiedenen Ständen und Buden vorbeigekommen, und auch wenn sie nur mit einem Auge hingesehen hatte, wäre ihr garantiert aufgefallen, wenn sich das Angebot dort deutlich von diesem Schreckenskabinett hier unterschieden hätte. Sie antwortete nicht gleich, sondern sah sich stirnrunzelnd und sehr aufmerksam um, wobei ihr Augenmerk vor allem den Kleidern der Frauen ringsum galt. Sie unterschieden sich kaum von den hier ausgestellten Schmuckstücken, und wenn, dann allenfalls dadurch, dass sie ein wenig abgetragener und zerschlissener wirkten.
Anscheinend war sie mit ihrer Beobachtung nicht allein. »Erklär mich meinetwegen für verrückt«, sagte Alica, »aber das hier scheint tatsächlich der letzte Schrei zu sein … wobei die Betonung eindeutig auf Schrei liegt, wenn du mich
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