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Elfenblut

Elfenblut

Titel: Elfenblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Alica bestimmt nicht gut angekommen wäre, hätte sie sich damit selbst eingestanden, dass sie mit ihrem Latein ziemlich am Ende war und sich einfach nur hilflos fühlte. So hilflos, dass es fast körperlich wehtat.
    »Du weißt schon, warum unser Wohltäter uns den Jungen mitgegeben hat?«
    Alica reagierte mit einer sonderbaren Mischung aus einem zaghaften Nicken und einem Schulterzucken. »Weil er uns nicht traut?« Sie machte eine wiegende Kopfbewegung. »Du meinst, er hat Angst, wir könnten einfach verschwinden? Aber wo sollten wir hingehen?« Sie schauspielerte ein absichtlich übertriebenes Frösteln, wohl um an die Szene vom vergangenen Morgen zu erinnern – was ganz und gar nicht nötig gewesen wäre. Pia hatte die schrecklichen Minuten im Schlingwald so wenig vergessen wie sie.
    Eine Weile gingen sie in unbehaglichem Schweigen nebeneinander her, jede mit ihren eigenen, vornehmlich düsteren Gedanken beschäftigt. Pia war noch immer von jenem quälenden Gefühl der Hilflosigkeit erfüllt. Und dazu fühlte sie sich nach wie vor körperlich müde und zerschlagen, was vielleicht der ganz banale Grund für das psychische Loch war, auf das sie zusteuerte. Es war nicht so, dass sie körperliche Arbeit nicht gewohnt gewesen wäre – ganz im Gegenteil –, aber der gestrige Abend war trotz aller bizarren Requisiten auf eine erschreckende Art normal gewesen. Sie war aus ihrer gewohnten Umgebung, ihrem Leben, ja, ihrer Welt herausgerissen worden und hatte sich nach kaum vierundzwanzig Stunden wie ganz selbstverständlich in eine andere eingefügt, tat Dinge und überlegte Möglichkeiten, als gehörte sie hierher und bereite sich darauf vor, den Rest ihres Lebens in dieser verrückten Stadt zuzubringen.
    Und nicht zum ersten Male hatte sie das Gefühl, dass das auch richtig war.
    Der Gedanke weckte ihren Trotz. Vielleicht stimmte es. Vielleicht fanden sie nie wieder den Weg zurück, und vielleicht würden Alica und sie hierbleiben und sich irgendwie mit alldem arrangieren müssen – aber nicht, bevor sie alles in ihrer Macht Stehende versucht und ausprobiert hatte, zurückzukehren.
    Lasar blieb plötzlich stehen und drehte sich mit einer fast schuldbewusst wirkenden Bewegung zu ihr herum. Er sah zugleich auch ein bisschen verwirrt aus – vielleicht fragte er sich ja, dachte Pia, wieso sie ihm befohlen hatte vorauszugehen, damit Alica und sie sich in Ruhe unterhalten konnten, was sie aber nicht getan hatten –, raffte dann all seinen Mut zusammen und wartete, bis sie sich ihm auf zwei Schritte genähert hatten und ebenfalls stehen blieben. »Der Marktplatz ist dort vorne, Erhabene«, begann er mit einer wedelnden Geste die Straße hinab. Pias Blick folgte ihr, und sie konnte dort ganz und gar nichts Außergewöhnliches erkennen; sah man einmal von der ganzen Stadt ab. Als er weitersprechen wollte, hob sie rasch die Hand.
    »Tu mir einen Gefallen und hör mit diesem dummen Erhabene auf. Mein Name ist …«
    Sie sprach nicht weiter, sondern biss sich beinahe erschrocken auf die Unterlippe, und Alica kam ihr zu Hilfe. »Pia«, sagte sie.
    »Pia?« Lasar wiederholte den Namen mit derselben vollkommen falschen Betonung, wie Brack es gestern getan hatte, und er sprach die Frage, die ihn am meisten beschäftigte, nicht laut aus, aber Pia konnte sie deutlich auf seinem Gesicht ablesen: Warum nennst du dich dann selbst Gaylen?
    »Das hat … religiöse Gründe«, improvisierte sie. »Da, wo ich herkomme, darf nur ich meinen wirklichen Namen benutzen. Andere müssen mich mit dem ansprechen, den Alica gerade genannt hat.«
    Lasar starrte sie nun vollkommen fassungslos an, und Pia überlegte, ob er es tat, weil er sich in diesem Moment ernsthaft fragte, ob sie vielleicht seine Gedanken lesen konnte, oder eher, weil er diese Erklärung genauso bescheuert fand, wie sie in ihren eigenen Ohren klang. Andererseits hätte er vermutlich auch dann nicht widersprochen, wenn sie von ihm verlangt hätte, den Rest des Weges auf den Händen zu laufen und dabei ein Lied zu pfeifen. Sie bedeutete ihm mit einer wortlosen Geste, weiterzugehen.
    »An diesem Gaylen-Ding«, sagte Alica spöttisch, »müssen wir noch arbeiten.«
    Pia pflichtete ihr zumindest in Gedanken bei, antwortete aber nicht laut, schon weil sich Lasar jetzt wieder in ihrer Hörweite befand und so demonstrativ nicht in ihre Richtung blickte, dass es fast rührend war (sie aber ganz bestimmt aufmerksam belauschte). Nur einen Augenblick später hatten sie eine Straßenkreuzung

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