Elfenblut
und schließlich ihren Oberarm fühlte und sie mit sanfter Gewalt umdrehte. Sie wollte nicht, dass Alica die Leichen der beiden Männer sah, die Esteban zu Pias Schutz abkommandiert hatte. »Weiter.«
Während der ersten Schritte war sie vermutlich genauso blind wie Alica. Sie stolperte einfach los und hoffte, dass sie instinktiv die richtige Richtung wählte. Ihre Sinne funktionierten immer noch nicht. Sie sah kaum mehr als Schatten und war nicht sicher, ob das, was sie hörte, auch wirklich real war. Wahrscheinlich sah und hörte Alica in diesem Moment mehr als sie, aber Pia hatte nun einmal die Initiative übernommen und konnte jetzt nicht mehr zurück. Sie liefen weiter, stolperten nebeneinander und im gleichen Augenblick über die knöchelhohe Mauer aus weiß angestrichenen Steinen, die Estebans Grundstück begrenzte, und hasteten über die schlammige Straße. Hinter ihnen gellte ein Schrei durch die Nacht. Etwas knallte – kein Schuss, sondern ein anderer, dunklerer Laut – und Schatten bewegten sich hektisch hin und her, schienen sich zu einem irrsinnigen Reigen zusammenzufinden und trieben wieder auseinander, bevor sie endgültig Gestalt annehmen konnten. Die Luft roch nach Schnee.
»Pia?«
Alica rüttelte so heftig an ihrer Schulter, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen und es wehtat. Pia fegte ihre Hand zur Seite und funkelte sie an.
»Was soll der Unsinn?«
»Das frage ich dich«, antwortete Alica. »Du warst weggetreten. Ist alles in Ordnung?«
»Weggetreten?«
»Mindestens eine Minute«, bestätigte Alica. »Was ist los mit dir?«
»Nichts«, antwortete Pia unwirsch. Weggetreten? Aber sie hatte doch nur … »Nichts«, sagte sie noch einmal. »Wir müssen weiter. Los!«
Alica sah sie zweifelnd an, beließ es aber bei einem wortlosen Achselzucken und machte eine fragende Geste. Los, begriff Pia, war im Prinzip eine gute Idee. Die Frage war nur, wohin. Und was sollte das heißen: Sie war eine Minute weggetreten gewesen?
Pia schüttelte den Gedanken mit einer neuerlichen Anstrengung ab, schenkte Alica ein flüchtiges, aber ehrlich gemeintes Lächeln und sah in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Augenscheinlich hatte Alica mit ihrer Behauptung recht, dass sie für eine Weile abwesend gewesen war. Sie hatten sich mindestens zwei- oder dreihundert Meter von Estebans Haus entfernt, und Pia konnte beim besten Willen nicht sagen, wie. Die unheimlichen Angreifer schienen sie nicht zu verfolgen.
»Und wohin gehen wir jetzt?«, fragte Alica.
Pia überlegte einen Moment. »Irgendwohin«, sagte sie schließlich. »Ganz egal. Nur zu niemandem, den wir kennen.«
»Warum nicht?«
»Weil sie uns da zuerst suchen werden.«
»Ja, wahrscheinlich«, sagte Alica, nachdem sie einen Moment lang stirnrunzelnd über dieses Argument nachgedacht hatte. »Und wohin gehen wir dann?«
Eine gute Frage, dachte Pia. Sie nahm sich fest vor, sie auch zu beantworten. Sobald ihr selbst die Antwort eingefallen war.
VI
G laubst du, dass Esteban tot ist?«
Es war das dritte Mal innerhalb kurzer Zeit, dass Alica diese Frage stellte. Die beiden ersten Male hatte Pia sich mit viel Glück und hastig improvisierten Ausflüchten vor einer Antwort gedrückt, aber allmählich fielen ihr keine Ausreden mehr ein. Sie mussten inzwischen mindestens zwei oder drei Kilometer von Estebans Haus entfernt sein, und von ihren Verfolgern war immer noch keine Spur zu sehen. Pia war ziemlich sicher, dass sie sie abgehängt hatten. Sie selbst hatte jedenfalls schon lange keine Ahnung mehr, wo sie sich befanden.
»Ich glaube nicht«, antwortete sie mit einiger Verspätung. »Jedenfalls war er noch am Leben, als wir im Zimmer waren.«
»Aber da war so viel Blut!«
»Ich schätze, das meiste war von dem Kerl, dem du den Fuß perforiert hast«, antwortete Pia. Sie versuchte, eher amüsiert als besorgt zu klingen, und zu ihrer eigenen Überraschung gelang es ihr sogar. »Keine Sorge. Sie haben ihm eins übergebraten, und wahrscheinlich wird er morgen früh mit den schlimmsten Kopfschmerzen seines Lebens aufwachen, aber ich glaube nicht, dass er tot ist. Du kennst doch Esteban. Er hat einen harten Schädel.«
»Hoffentlich«, sagte Alica. »Wäre schade, wenn ihm was passiert wäre.«
Schade? Pia warf ihr einen leicht verwirrten Blick zu. Für jemanden, der seit fast einem Jahr Tisch und Bett mit Esteban teilte, war das eine eigenartige Formulierung, fand sie. Andererseits ging es sie nichts an.
Ȇbrigens, was ich vorhin gesagt
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