Elfenblut
stabiles Papier heraus. Der Anblick dahinter war keinen Deut weniger gespenstisch als in der vergangenen Nacht. Ganz im Gegenteil. Das helle Tageslicht sollte ihm etwas von seinem Schrecken nehmen, aber es hatte nur die Schatten vertrieben und zeigte ihr dafür unzählige andere Details, von denen sie kein einziges wirklich sehen wollte.
Die Häuser blieben so fremdartig und vertraut zugleich, wie Pia sie aus der vergangenen Nacht in Erinnerung hatte, aber die Straße war jetzt nicht mehr leer. Zahlreiche Personen waren allein auf dem schmalen Abschnitt zu sehen, den sie durch das Fenster überblicken konnte, Männer, Frauen und eine überraschend große Anzahl von Kindern, die an den Händen ihrer Eltern gingen, umhertollten oder auch fröhlich im Morast spielten, als herrschten draußen nicht Temperaturen irgendwo um den Gefrierpunkt. Die meisten Männer waren ähnlich gekleidet wie Brack und die beiden Betrunkenen von vergangener Nacht, zwei trugen eine Art Uniform, komplett mit Helm, Harnisch und Speer; als wären sie direkt aus einem Fantasy-Film entsprungen. Die meisten Frauen hatten weite Röcke und dazu passende, hochgeschlossene Blusen an, die der Witterung entsprechend aus warmem Stoff zu bestehen schienen, und kleine Häubchen, die ihr Haar verbargen. Ein dreirädriger Karren, der von einem Esel oder einem sehr kleinen Pferd gezogen wurde, rumpelte vorüber, und auf der gegenüberliegenden Straßenseite gewahrte sie eine Art offenen Laden, der entweder Blumen oder ganz besonders buntes Gemüse feilbot. Der Anblick wirkte ungemein friedlich und zugleich so falsch, wie er nur sein konnte.
Pia hob den Kopf und sah über die spitzen Dächer hinweg, und aus ihrem verrückten Verdacht von vergangener Nacht wurde noch verrücktere Gewissheit. Nicht allzu weit entfernt erhob sich tatsächlich der zinnengekrönte Wehrgang einer Stadtmauer über die verschneiten Dächer. Sie konnte ein Stück eines wuchtigen Turms erkennen und eine in einen dicken Fellmantel gehüllte Gestalt, die darauf patrouillierte und sich in dem fast unmöglichen Kunststück versuchte, gleichzeitig das Gesicht aus dem Wind zu drehen und das Gebiet jenseits der Mauer im Auge zu behalten.
Kein Zweifel, sie waren nicht nur in der falschen Stadt gelandet, sondern auch in der falschen Zeit, und selbst wenn sich das völlig verrückt oder total abgedreht und ganz und gar unmöglich anhörte, es war so.
Pia schüttelte den Kopf und wollte sich schon vom Fenster abwenden, als eine Bewegung ihre Aufmerksamkeit erweckte. Sie konnte nicht genau sagen, was daran falsch war, und presste stirnrunzelnd die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, um besser sehen zu können. Eine Gestalt stand dort unten und passte nicht ins Bild des gemächlichen Flanierens. Sie war deutlich größer als alle anderen, trug einen schlichten braunen Mantel mit einer hochgeschlagenen Kapuze, doch darunter waren deutlich sowohl der struppige Fellumhang als auch der mindestens genauso struppige Bart zu erkennen. Und sie konnte die hasserfüllten Blicke, die sie unter der Kapuze heraus trafen, mit fast körperlicher Intensität spüren.
Die Tür fiel ins Schloss, und Alica kam zurück. Ihrer Miene nach zu urteilen, hatte sie dasselbe Erfolgserlebnis mit den sanitären Anlagen gehabt, und sie funkelte Pia so wütend an, als wäre das alles hier ganz allein ihre Schuld. Von ihrem Standpunkt aus betrachtet, dachte Pia, war das ja gar nicht einmal so falsch.
»Und?«, fragte sie. »Erfolg gehabt?«
»Danke der Nachfrage«, maulte Alica. »Ich hatte eine reizende Unterhaltung mit Brack. Netter Kerl. Nur ein bisschen geschwätzig für meinen Geschmack.«
Pia warf einen weiteren, raschen Blick aus dem Fenster. Die Gestalt im Fellumhang war verschwunden. Aber die Erleichterung wollte sich nicht einstellen.
»Du verstehst ihn wirklich nicht«, sagte sie an Alica gewandt. Sie hoffte, dass die junge Frau ihr ihre Furcht nicht allzu deutlich ansah.
»Kein Wort.« Alica trat neben sie ans Fenster, warf einen Blick auf die Straße hinab und drehte sich dann so schnell weg, als hätte sie etwas durch und durch Entsetzliches gesehen. »Kannst du mir sagen, was für eine Sprache der Kerl eigentlich spricht?«
Pias Blick suchte noch einmal und noch aufmerksamer die Straße ab, bevor sie antwortete. »Das ist das Problem«, sagte sie. »Er spricht keine fremde Sprache.«
»Was soll das heißen?«
»Genau das, was es heißt«, antwortete Pia ernst. »Ich verstehe ihn. Jedes Wort.«
»Ja,
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