Elfenherz
die Bürgersteige waren vollgemüllt - Scherben, vertrocknete Kondome, ein zerrissener Slip. Dennoch, mit dem Duft von Tau auf dem Asphalt, auf dem Rost des Zauns und dem spärlichen Gras, kombiniert mit den leeren Straßen, schien Williamsburg von Manhattan weit entfernt zu sein.
Val tauchte unter einem Kettenzaun hindurch auf ein leeres Grundstück. Ein Graben trennte den aufgesprungenen Beton von den kleinen Hügeln. Sie sprang hinein und nutzte ihn als Fußweg zu ihrem Ziel, wo schwarze Felsen den Platz zwischen Strand und Fluss markierten.
Irgendetwas war da. Erst dachte Val an getrockneten Seetang oder eine verwehte Plastiktüte, aber als sie näher kam, stellte sie fest, dass es eine Frau mit grünem Haar war. Sie lag mit dem Gesicht nach unten halb auf den Felsen, halb im Wasser. Als Val hinrannte, bemerkte sie die Fliegen,
die um den Oberkörper der Frau summten und auch den Schwanz nicht verschmähten, der in der Strömung schwamm, die Schuppen silbern leuchtend im Schein der Straßenlampen.
Es war die Leiche einer Meerjungfrau.
7
Sie genießen mein Vertrauen,
sind erste Wahl,
Bruder Blei und Schwester Stahl.
SIEGFRIED SASSOON,
»THE OLD HUNTSMAN
AND OTHER POEMS«
A ls Val das erste Mal etwas Totes sah, am Einkaufszentrum neben dem Haus ihres Vaters, da war sie zwölf. Sie hatte einen Penny in den Brunnen beim Gastronomiebereich geworfen und sich Joggingschuhe gewünscht. Kurz darauf hatte sie es sich anders überlegt und rannte zurück, um ihre Münze zu suchen und sich etwas Neues zu wünschen. Doch auf dem stillen Wasser trieb der schlaffe Körper eines Spatzen. Sie hatte die Hand ins Wasser gesteckt und ihn hochgehoben. Dabei floss Wasser aus seinem kleinen Schnabel wie aus einem Becher. Er roch scheußlich, wie Fleisch, das aus der Gefriertruhe geholt und vergessen worden war. Es dauerte einen Augenblick, in dem sie ihn nur anstarrte, bis sie merkte, dass er tot war.
Als Val durch die Straßen und über die Manhattan Bridge rannte, ihr Atem wolkig in der kalten Luft, musste
sie an den kleinen Vogel denken. Jetzt hatte sie schon zwei Tote gesehen.
Die magische Tür unter der Brücke öffnete sich genauso wie beim letzten Mal, aber beim dunklen Treppenabsatz merkte sie, dass sie nicht allein war. Jemand kam die Treppe hinunter. Erst als die Kerze in seiner Hand die silbernen Kreolen in Lippe und Nase und das Weiße in seinem Auge beleuchtete, erkannte sie ihn. Luis war genauso erstaunt wie sie und wirkte in dem flackernden Licht erschöpft.
»Luis?«, fragte Val.
»Ich hatte gehofft, dass du längst weg bist.« Luis’ Stimme klang sanft und ohne Vorwurf. »Ich hatte gehofft, dass du zu Mommy und Daddy in deinen Vorort zurückgekehrt bist. Das ist alles, was ihr Brücken-und-Tunnel-Mädels könnt: Weglaufen, wenn es hart auf hart kommt. Weglaufen in die große böse Stadt und dann nach Hause laufen.«
»Schnauze«, erwiderte Val. »Du weißt gar nichts über mich.«
»Und du weißt nichts über mich. Du glaubst, ich hätte dich wie Scheiße behandelt, dabei tue ich dir einen Gefallen nach dem anderen.«
»Was hast du eigentlich gegen mich? Du konntest mich von der ersten Sekunde an nicht ausstehen!«
»Freundinnen von Lolli machen nur Ärger, und genau das hast du auch getan. Und ich darf dafür einem genervten Troll Rede und Antwort stehen, nur wegen euch blöden Zicken. Kapierst du jetzt, was ich gegen dich habe?«
Vor lauter Wut wurde Vals Gesicht ganz heiß, trotz der
Kälte im Treppenhaus. »Was ich kapiere, ist, dass an dir nichts dran ist, außer dass du das Zweite Gesicht hast. Du redest mieses Zeug über Elfen, aber in Wirklichkeit bist du stolz, dass du derjenige bist, der sie sehen kann. Und deshalb bist du krank vor Neid auf alle, die nur mit einem von ihnen reden.«
Luis starrte sie an, als hätte sie ihn geschlagen.
Die Worte strömten aus Val heraus, bevor sie selbst wusste, was sie sagen würde: »Und ich hab noch was kapiert. Ratten können meinetwegen Kupfer durchbeißen oder sonst was, aber der einzige Grund, warum sie überleben, ist, weil sie so unendlich viele sind. Das ist das Tolle an Ratten - die vögeln einfach ununterbrochen und kriegen haufenweise Babys.«
»Stopp«, sagte Luis und hob die Hand, als wollte er ihre Worte abwehren. Seine Stimme war jetzt ganz leise, sein Ärger schien zu schwinden wie Luft aus einem geplatzten Luftballon. »Gut. Okay. Für Ravus und die anderen Elfen sind Menschen genau das: blöde Dinger, die sich wie wild vermehren und
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