Elfenkind
er seine Aufgabe gefunden hatte: sie zu schützen.
Er hörte ihren Gedanken so deutlich, als hätte sie ihn ausgesprochen.
Wer bist du und warum …?
«Später», sagte er leise. «Ich werde dir alles erklären. Du musst mir vertrauen, um zu leben.»
Sie nickte. Ihre Augen schienen riesig in ihrem schmalen Gesicht. Sie blinzelte einige Male, versuchte, sein Gesicht in der Dunkelheit auszumachen, aber Menschen verfügten nun mal nicht über dieselbe Nachtsicht wie seinesgleichen. Sie war verwirrt und verängstigt, doch jetzt war nicht die Zeit für Erklärungen. Jetzt musste er sie erst einmal hier wegbringen. Weg von der Gefahr, den Unreinen, den Schreien ihrer Gefährten …
Wieder an der Oberfläche angekommen, zog er sie in den Eingang des Domarchivs. Hier sollten sie fürs Erste ungestört sein. Kaum dass sie ihm ihre Hand entzog, hatte er schon das Gefühl, ihm fehle etwas.
«Oh, Gott», keuchte sie und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. «Wir müssen sofort die Polizei rufen.»
«Das wäre ganz nutzlos», erwiderte er ruhig.
«Was meinen Sie?»
Er konnte fühlen, dass sie am ganzen Körper zitterte.
«Und wer sind Sie überhaupt?»
Was sollte er ihr darauf sagen? Es gab keine Antwort. Keine, die er ihr geben konnte, keine, die sie wissen durfte. Noch immer fühlte er dieses beinahe übermächtige Verlangen, sie zu beschützen. Aber das konnte er nur auf eine einzige Art tun. Auch wenn es ihm widerstrebte, hatte er keine andere Wahl.
Er umschloss vorsichtig ihre beiden Oberarme mit seinen Händen, sodass sie sich ihm nicht entziehen konnte. «Sieh mich an», flüsterte er.
Überrascht hob sie den Kopf und sah ihm in die Augen, so wie er es gewollt hatte. Ihre Augen leuchteten wie Juwelen in ihrem hellen Gesicht.
«Sieh mich an …», wiederholte er in einer Stimme, von der er wusste, dass sie ihr nicht würde widerstehen können. Dann drang er in ihre Gedanken. Ihre Augen weiteten sich überrascht, doch sie blieb ruhig stehen, als wäre ihr die Berührung seiner Gedanken jetzt schon vertraut, nichts, vor dem sie Angst haben oder zurückschrecken müsste.
«Wie heißt du?», fragte er sanft, auch wenn er wusste, dass er es nicht sollte. Sein Kontakt mit ihr sollte so kurz wie möglich sein. Seine Aufgabe war es, sie so weit wie möglich von der Welt der Vampire fortzuhalten. Jede Information, die nicht dazu dienlich war, die ihn im Gegenteil näher zu ihr brachte, konnte nur ein Fehler sein. Aber er musste es einfach wissen.
Ihre Lippen bewegten sich leicht und ihr Mund öffnete sich wie zu einem kleinen Seufzen. Verlangen durchströmte seinen Körper und er wollte sie küssen. Wollte es so sehr, dass er es in seinen Knochen spüren konnte. Er unterdrückte den Gedanken sofort. Hatte er jetzt vollkommen den Verstand verloren?
«Aliénor», flüsterte sie. «Ich heiße Aliénor.»
«Aliénor.» Er ließ den Namen wie eine außergewöhnliche Köstlichkeit über seine Zunge rollen. «Wo wohnst du?», fragte er und hörte die Antwort in ihren Gedanken. «Aliénor», sagte er wieder, unfähig, ihren Namen nicht noch einmal zu benutzen. Er wusste, es würde das letzte Mal sein. Er würde sie sicher nach Hause bringen und dann würden sie sich nie wieder sehen.
Er sah ihre Verwirrung, die Angst und den Schrecken, den diese Nacht hinterlassen hatte. All das würde – zusammen mit jeder Erinnerung an ihn – verschwinden. Dann wäre sie wieder sicher. So wie es sein sollte.
Warum fühlte er also dieses Bedauern?
«Du wirst dich an nichts erinnern», sagte er leise und zog sie noch näher an sich. Er sah ihr tief in die Augen, drang behutsam bis weit in ihren Geist und sandte eine unwiderstehliche Botschaft: Vergiss!
Ihre Augen rollten nach hinten und er barg sie in seinen Armen, als sie das Bewusstsein verlor.
8
Frédéric tigerte um seinen Computer herum und versuchte sich davon zu überzeugen, dass er nicht weiter nachforschen sollte, wer die junge Frau war, die er heute Nacht gerettet und die so starke und unerwartete Gefühle in ihm ausgelöst hatte.
Eigentlich hatte er geglaubt, schnödes körperliches Verlangen schon lange Zeit hinter sich gelassen zu haben. Doch es war nicht nur das, auch wenn er ihren schlanken Körper selbst in der absurden Kombination von diesen seltsamen altertümlich anmutenden Kleidern und den schweren klobigen Stiefeln äußerst reizvoll gefunden hatte. Er hatte wirklich das Bedürfnis gehabt, mehr von ihr zu erfahren und sie näher kennenzulernen.
Er
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