Elfenkind
Überall war es ruhig, niemand zu sehen oder zu hören. Bei Tag schlafen alle, hatte Roxanne gesagt. Also war es doch wahr, dass Vampire das Sonnenlicht mieden. Sie verspürte auf einmal eine unbändige Lust, das Château zu erkunden, das ihr wie ein verwunschenes Märchenschloss erschien.
Der Teppich war weich und verführte zum barfuß laufen. Was nur gut war, da sie ja nach wie vor keine Schuhe bei sich hatte. Ihre Zehen sanken tief in den dichten Flor. Es war ein herrliches Gefühl. Waren ihre Fußsohlen sensibler geworden?
Als sie die Treppe hinunterging, kam ihr, korrekt gekleidet wie schon in der Nacht zuvor, Bertrand entgegen. Schlief dieser Mann nie?
«Mademoiselle Aliénor. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Nacht. Darf ich Ihnen vielleicht die Zimmer im Erdgeschoss zeigen oder möchten Sie lieber den Garten erkunden?»
Er sah auf ihre nackten Füße ohne eine Miene zu verziehen und reichte ihr eine Chipcard. Aliénor war irritiert. Irgendwie wollte so ein modernes Accessoire nicht wirklich zu einem Märchenschloss und dem alten Interieur passen.
Bertrand lächelte. «Diese Karte, Mademoiselle Aliénor, benötigen Sie, um rein und raus zu kommen. Moderne Vorsichtsmaßnahmen gegen unerwünschte Eindringlinge. Man kann nie wissen.»
Offensichtlich machte die harte Realität auch vor einem Märchenschloss nicht Halt.
«Ich würde sehr gerne mehr vom Schloss sehen, wenn Sie die Zeit hätten, es mir zu zeigen», sagte sie und steckte die Chipcard ein.
Bertrand nickte und sie hatte fast das Gefühl, er wäre darüber erfreut. Vermutlich hatte er nicht oft Gelegenheit, Besucher im Haus herumzuführen.
«Das Schloss ist so groß, da kann man sich ja direkt verlaufen», meinte sie lächelnd.
Er nickte und sie sah etwas wie Besitzerstolz in seinen Augen aufblitzen. «Sehr gerne, Mademoiselle. Wenn Sie mir bitte folgen möchten?»
21
Das Gefühl, in diesem wundervollen Kleid und dazu passenden eleganten Schuhen die Treppe hinunter zu schreiten, war befremdlich und beschwingend zugleich. Minutenlang hatte Aliénor sich in dem Traum aus fließendem rotem Stoff vor dem Spiegel gedreht. Das Kleid stand ihr vortrefflich und brachte ihre Flügel, die sich wie ein weißer Schleier hinter ihrem Rücken erhoben, besonders schön zur Geltung. Irgendwie erschien ihr jedoch alles unwirklich und erinnerte sie an frühe Kindertage, als Chantal sie im Fasching als Prinzessin verkleidet hatte.
Roxanne war den ganzen Tag über fleißig gewesen und hatte fantastische Arbeit geleistet. Als sie kurz vor Einbruch der Dunkelheit an die Tür des roten Salons klopfte, hatte sie nicht nur Schuhe besorgt, es lagen auch drei Kleider über ihrem Arm.
Aliénor war überwältigt. Ihr gefielen alle drei, schon alleine deswegen, weil ihr diese Kleider trotz ihrer Flügel passten. Eines war dunkelblau und knielang, das andere dunkelgrün, aus einem alltagstauglichen festen Stoff.
Das Kleid, das sie an diesem Abend trug, war das eleganteste. Aus schimmernder roter Seide floss es über ihren Körper wie ein feuriger Wasserfall. Vorne hoch geschlossen schmiegte sich der Stoff um ihren Hals, lief dann frei über ihren Oberkörper, um dann nach einer kleinen Raffung an der Hüfte bis auf den Boden herabzufallen. Vorne bedeckte das Kleid ihren ganzen Körper, der gesamte Rücken und die Arme blieben jedoch frei. Komplettiert von im Farbton passenden hohen Abendsandaletten, kam sie sich in diesem Outfit vor wie eine echte Prinzessin. Selten hatte sie sich selbst so schön gefunden.
Roxanne hatte einer der Schubladen Ohrringe und mehrere breite Armreifen aus weißen und schwarzen Perlen entnommen und Aliénor angelegt. Ihre Haare waren gebürstet, toupiert und mit ein paar Haarkämmen gebändigt und zu einer eleganten Hochfrisur aufgesteckt worden. Bislang war es noch niemandem gelungen, ähnliches mit ihren Haaren anzustellen, nicht einmal Lara.
Sie schluckte krampfhaft bei der Erinnerung an das traurige Schicksal ihrer besten Freundin. Wenn Lara sie jetzt in dieser Aufmachung sehen könnte – sie wäre begeistert. In diesem Augenblick gab sie ein perfektes Bild eines Mitglieds der Eternal Romantics zum Besten.
Frédéric stand mit einem anderen Mann ins Gespräch vertieft im Foyer. Auch er hatte sich umgezogen und trug nun einen perfekt sitzenden anthrazitfarbenen Anzug, der mit seinem klassischen Schnitt die Breite seiner Schultern nur noch mehr betonte. Ein blütenweißes Hemd und eine dunkelrote Krawatte aus Rohseide komplettierten
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