Elfenkind
Aliénor gab es nicht mehr, ihr menschliches Leben mit all seinen Zwängen und Verpflichtungen lag mit verbrannten Brücken hinter ihr. Endlich konnte sie ganz sie selbst sein.
«Aliénor …», begann er und sie wusste, er würde etwas sagen, was sie nicht hören wollte, sie freundlich, aber bestimmt zurückweisen. Die alte Aliénor wäre voller Scham geflohen, sicher, dass sie seiner Liebe, seines Begehrens nicht wert sei.
Doch die neue Aliénor wusste um ihre weibliche Macht. Sie sah das Verlangen in seinem Blick, erkannte es in jeder Linie seines Körpers. Die neue Aliénor zog ihn zu sich heran und küsste ihn.
Seine Lippen waren kühl, so anders, als alle anderen Lippen, die sie bisher geküsst hatte – nicht, dass es viele gewesen waren –, und gleichzeitig unendlich betörender. Sie atmete den männlich-exotischen Duft seiner Haut, schmeckte den Alkohol auf seinen Lippen. Doch sie wollte mehr. Kühn wagte sie sich weiter vor, leckte mit ihrer Zunge über seinen Mund.
Für einen Moment blieb er starr in ihren Armen, alle Muskeln gespannt. Sie spürte genau den Moment, in dem er kapitulierte und sich ergab. Seine Lippen wurden weich, öffneten sich unter den ihren. Seine Arme legte sich um sie und zogen sie näher an sich. Seine Zunge spielte mit der ihren und jeder weitere Gedanke verlor sich in dem glitzernden Feuerwerk der Empfindungen. Noch nie hatte sie etwas Vergleichbares gespürt.
Mehr , dachte sie. Ich will mehr.
Doch kaum war der Gedanke wie ein Irrlicht durch ihr Gehirn gehuscht, beendete er den Kuss auch schon und schob sie sanft von sich weg.
«Du solltest jetzt besser wieder in dein Zimmer gehen», sagte er mit rauer Stimme.
«Ja, okay. Okay», stotterte sie heraus. Nicht besonders beredt, wie sie selbst zugeben musste, aber zu mehr war sie momentan nicht fähig.
Er stand auf und reichte ihr die Hand. Schneller als sie es sich hätte träumen lassen, war sie zurück in ihrer Suite. Allein.
Sie begann, mit langsamen Bewegungen den Schmuck abzulegen und ihr Kleid auszuziehen. Als es mit einem leisen Rascheln über ihren Körper zu Boden glitt, konnte sie sich fast vorstellen, es wären seine Hände, die sie berührten, und sie erschauderte.
Das war also Verlangen. Nein, korrigierte sie sich. Lust. Das war Lust.
Und sie würde wohl, zumindest für heute Nacht, unbefriedigt bleiben. Hatte Frédéric sich einfach wie ein Gentleman verhalten wollen, oder steckte etwas anderes dahinter? Was auch immer der Grund war, sie würde es herausfinden. Sie hatte ganz sicher nicht vor, die Sache einfach auf sich beruhen zu lassen.
24
Es vergingen einige Tage, in denen Aliénor viel Zeit alleine verbrachte. Sie erkundete in den frühen Morgenstunden ausgiebig den prächtigen Park um das Château, der sich mit gut gepflegten Wegen, schönen alten Bäumen und farblich aufeinander abgestimmten Blumenbeeten präsentierte.
Obwohl noch Tau auf den Blütenblättern glänzte, schwirrten bereits die ersten Insekten herum, Bienen, Hummeln und Schmetterlinge. Eine gute Uhrzeit, unbeschwert die frische Luft und die Natur zu genießen, dachte Aliénor. Als sie sah, wie die Falter von einer Blüte zur nächsten taumelten, begann auch sie ihre Flügel zu bewegen. Es gelang, ihre Füße hoben vom Boden ab. Ein Jauchzen kam über ihre Lippen. Es war ein so großartiges Gefühl, es den Insekten nach zu machen, beinahe schwerelos über das Blütenmeer hinweg zu gleiten. Es war nicht anstrengender, als sich zu Fuß zu bewegen oder Fahrrad zu fahren. Mit jeder Minute fühlte sie sich sicherer dabei.
Das Château wirkte von außen noch größer als von innen, mit Erkern, halbrunden, in die lange Fassade übergehenden Türmen, hohen Fenstern und vielen schlanken und zugleich sehr hohen Schornsteinen, die wie Zinnsoldaten auf dem mit blaugrauen Ziegeln gedeckten Dach standen. Jetzt ergaben auch die aufwändig gestalteten Kamine aus weißem oder schwarzem Marmor einen Sinn, die ihr beim Erkunden der Räume aufgefallen waren.
Tagsüber hätte sie wie die Vampire schlafen sollen, aber ihr Wach-Schlaf-Rhythmus stellte sich nun mal nicht so schnell um, nur weil sie bei nachtaktiven Vampiren eingezogen war. Sie war spätestens am Nachmittag wieder munter und langweilte sich so alleine. Denn außer Roxanne oder Bertrand, die sich auch im Tageslicht bewegen konnten, traf sie zu dieser Zeit niemanden an. Beide hatten aber einen strengen Arbeitsplan zu erfüllen, damit im Schloss alles funktionierte, und daher kaum Zeit für
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