Elfenkind
bei weiteren Versuchen stand ihr Gesprächspartner einfach auf und setzte sich woanders hin, oder drehte sich demonstrativ ab.
Aliénor nahm sich vor, Geduld zu zeigen. Obwohl sie dieses Verhalten mehr als unhöflich fand und ihre Frustration zunahm. Irgendwie hatte sie erwartet, mit Gastfreundschaft oder Neugierde empfangen zu werden. Sie bat um eine Audienz beim König, aber dieser hatte bisher noch keine Zeit für sie gehabt. Seine Leibwächter wimmelten sie immer wieder ab.
Am liebsten hätte sie laut gebrüllt: Nehmt mich endlich zur Kenntnis, nehmt mich in eure Gemeinschaft auf. Aber sie traute sich nicht. Alles war so anders, so fremd, so steif. War es besser abzuwarten oder mit der Faust auf den Tisch zu hauen? Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie ganz auf sich allein gestellt, ohne Familie oder Freunde, und die gesamte Atmosphäre wirkte einschüchternd auf sie.
Am dritten Morgen nach Aliénors Ankunft schreckten alle beim Frühstück von ihren Sitzen hoch, weil ein Beben das Schloss erschütterte. Ein Sturm kam auf und brauste durch die offen stehenden Fenster des Speisesaals, warf Gläser um und fegte Teller und Dekoration von den Tischen. Hektisch rannten alle durcheinander, um die Fenster zu schließen. Aliénor kniete sich auf den Boden, das erschien ihr in dieser Situation am sichersten. Außerdem hätte sie sowieso nicht gewusst, was sie machen sollte.
Nach zwei Minuten war der Spuk vorbei und wie durch ein Wunder war niemand zu Schaden gekommen. Ein paar Teller und Gläser waren zu Bruch gegangen, das war alles.
Aliénor hätte gerne mit jemandem gesprochen, was das zu bedeuten hatte. Sie wusste natürlich, dass es ein Erdbeben gewesen war. Aber diese Gegend gehörte nicht zu typischen Erdbebenzonen, auch das war ihr bekannt. Doch jeder schien mit seiner eigenen Angst beschäftigt zu sein.
Am fünften Tag nach ihrer Ankunft und vielen erfolglosen Versuchen, zum König vorzudringen, wurde alles anders. Gerade als sie Platz zum Frühstück nehmen wollte, kam ein Elf auf sie zu. Er war größer als die anderen, von guter Figur und kräftiger, nicht so schmächtig wie die meisten. Während die Haare der anderen Elfen glatt, bei vielen fransig und strohig wirkten, ringelten sich seine in weichen Locken über die Schultern herab. Er trug eine Art Kaftan aus dunkelgrünem Stoff, mit silberner Einfassung, was ihn als ranghöher als die anderen auswies.
Er verbeugte sich vor ihr. «Guten Morgen Aliénor. Ich bin Nelrin. Darf ich dich an meinen Platz bitten, um mir beim Frühstück Gesellschaft zu leisten?»
Aliénor hatte Mühe, ihr Erstaunen zu verbergen. Aus dem Augenwinkel heraus verfolgte sie, wie die anderen Elfen sich tiefer über ihre Teller beugten, als wollten sie nichts mit dem zu tun haben, was vor sich ging. Aliénors feinen Ohren entging allerdings nicht das Tuscheln und Flüstern. Die allgemeine Neugierde war groß.
Sie sah starr geradeaus, aber als Nelrin sie zu einem separat gedeckten runden Tisch führte, der die Tage zuvor nicht dort gestanden hatte und sie mit freundlicher Stimme bat, Platz zu nehmen, zwang sie sich zu einem Lächeln. Vielleicht war er ja doch anders als die übrigen und sie sollte nicht sofort irgendeinen Zweck hinter der freundlichen Einladung vermuten. Zumindest war es sinnvoll ihrerseits den Anschein von Neutralität zu wahren. Vielleicht fand sie ja irgendetwas für sie Nützliches bei ihrer Unterhaltung heraus.
Goldgelber Nektar leuchtete in einer fein geschliffenen Glaskaraffe auf dem Tisch. Kleine Schälchen mit verschiedenen Honigsorten, bunte Blütenblätter, die einen betörenden Duft verströmten und andere Köstlichkeiten standen als Frühstück bereit. Aliénors Magen knurrte fordernd.
«Und? Hast du dich inzwischen bei uns eingelebt?», fragte Nelrin und nippte an seinem Glas. Sein Blick erschien ihr offen, ohne Falschheit, als erwarte er eine ehrliche Antwort.
Aliénor zuckte mit den Schultern. Es machte keinen Sinn so zu tun, als fühle sie sich im Château des Fleurs wohl. «Na ja, es könnte besser sein. Wie soll ich mich einleben, wenn niemand mit mir sprechen möchte. Keiner beachtet mich. Ich komme mir vor wie auf dem Abstellgleis.»
Nelrin runzelte fragend die Stirn. «Was bedeutet das?»
«Das … das sagt man so bei uns. Ich meine, ich fühle mich wie in einem goldenen Käfig eingesperrt.»
Sie zögerte, ob sie noch deutlicher aussprechen sollte, was sie dachte. Aber wenn nicht jetzt, wann dann. «Ihr haltet mich doch alle für
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