Elfenlicht
Morgenlicht fiel durch die Fenster und umschmeichelte die Waffen an der gegenüberliegenden Wand. So dicht hingen sie, dass der Marmor der Wand fast völlig hinter dem Stahl verschwand. Es war ein regelrechtes Arsenal, groß genug, um ein kleines Heer auszurüsten. Die Trophäen aus Jahrhunderten der Kriege.
Ganz am Ende dieser Galerie blutiger Erinnerungen schwebte ein Kobold in einem Weidenkorb. Obilee hatte mit dem kleinen Kerl schon ein paarmal gesprochen, konnte sich aber nicht an dessen Namen erinnern. Vielleicht hatte er ihn auch nicht genannt. Kobolde waren, was ihre Namen anging, mitunter recht eigen. Er kannte die Geschichte jeder der Klingen, seien es nun die geflammten Klingen der Elfen aus Langollion, die großen Doppeläxte der Minotauren oder die Stockdegen Arkadiens. Dabei kämpfte er seine ganz eigene Schlacht gegen Staub und Rost. Es war seine Lebensaufgabe, die Waffen blank zu halten, und er lebte in einer winzigen Kammer gleich hinter der Wand. Die verborgene Pforte zu seinem Heim lag hinter einem vom Kampf gezeichneten Drachenschild. Er gehörte zum Fechtsaal wie die Waffen, und er war glücklich, wenn er jemanden fand, dem er von seinen Siegen über den Schmutz, Grünspan und heimtückischen Flugrost erzählen konnte.
»Nimm dir diesen Treffer nicht zu Herzen, Obilee. In einem Kampf mit scharfen Waffen wäre das ein sehr ungeschickter Treffer gewesen.« Die Königin sah sie herausfordernd an. »Du weißt, warum?«
»Weil ein Schnitt durch die Kehle an dieser Stelle die große Ader durchtrennt, durch die das Blut vom Herzen zum Kopf fließt. Das Blut würde aus der klaffenden Wunde spritzen, und es bestünde die Gefahr, dass man Blutspritzer in die Augen bekommt. In einer Schlacht könnte ein Sieg, den ich damit bezahle, kurz geblendet zu sein, meinen Tod bedeuten.«
Emerelle nickte wohlwollend. »Sehr gut. Wenn du einen Angriff gegen den Hals deines Gegners führst, sollte es deshalb ein Stich sein und kein Schnitt. Solche Wunden bluten weniger stark. Ideal ist der Stich direkt unter das Kinn, der durch die Mundhöhle hinauf ins Gehirn führt. Er tötet augenblicklich, ist allerdings nur gut gegen größere Gegner zu führen wie etwa Trolle.«
Obilee überlief ein Schauder. Die kühle Art, in der Emerelle vom Ende eines Lebens sprach, machte ihr zu schaffen. Manchmal hatte sie die Befürchtung, dass die Königin den geheimen Plan verfolgte, sie zu ihrer Schwertmeisterin zu machen. So viele Jahre war Ollowain nun schon verschwunden. Emerelle konnte nicht mehr lange zögern. Die Raubzüge der Trolle wurden immer dreister. Es war nur eine Frage der Zeit, wann sie einen regelrechten Kriegszug ins Windland unternehmen würden, und dann brauchte sie einen Heerführer.
»Du siehst niedergeschlagen aus«, bemerkte Emerelle. »Nimmst du dir den Ausgang dieses kleinen Geplänkels so sehr zu Herzen, oder ist es etwas anderes, was dich bedrückt?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich zur Kriegerin berufen bin. Ich bewege mich so ungeschickt ... Und ich weiß nicht, ob ich jemanden töten kann.«
»Vielleicht sind es gerade diese Zweifel, die ich an dir schätze. Eine ritterliche Elfenkriegerin nimmt niemals leichtfertig ein Leben. Wenn deine Ausbildung abgeschlossen ist, dann wird es kein Geschöpf in Albenmark geben, das du nicht zu töten vermagst. Aber deine eigentliche Aufgabe besteht darin, Leben zu schützen. Du wirst für jene eintreten, die sich nicht mit der Waffe verteidigen können. Für viele Jahre wirst du eine fahrende Ritterin sein.
Schwert und Schild der Wehrlosen, die auf keine andere Hilfe hoffen dürfen als auf die eines Elfen, der sich ihrer Sache annimmt. Du wirst die kälberstehlenden Riesenwelse von Manchukett jagen und selbst mit verbundenen Augen die giftigen Pfeile der Gorgonen aus Nashrapur abwehren können. Du wirst den Ruhm der Elfenvölker mehren, die immer schon das Licht der Unterdrückten waren.«
Wenn Emerelle so redete, konnte Obilee nur an eines denken. Wenn sie fahrende Ritterin wurde, dann würde sie nicht hier sein, wenn der eine zurückkehrte, dem sie ihr Herz verschrieben hatte. Er, dessen rebellische Suche nach der verbannten Magierin Noroelle zu einer Legende unter den Elfenvölkern zu werden begann. Er, der sein Leben der Liebe zu einer anderen gewidmet hatte und der wohl niemals bemerken würde, wie viel er ihr bedeutete.
»Du bist heute weit fort mit deinen Gedanken. Es ist besser, wir beenden die Übungsstunde. Zur Mittagszeit erwartet dich Elodrin
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