Elfenlicht
als ich eine fahrende Ritterin war. Damals waren Recht und Gerechtigkeit so einfach zu finden. Man kämpfte für einen Einzelnen oder eine kleine Gemeinschaft. Alles war überschaubar. Du wirst sehen, es gibt weniges, das einen so zufrieden macht, wie dem Unrecht einen Sieg abzuringen. Heute ist alles unendlich viel schwerer geworden. Ich bin Schild und Schwert einer ganzen Welt. Ich habe tausende Zukünfte Albenmarks in meiner Silberschale gesehen. Ich war Zeugin von Schrecken, die du dir nicht einmal vorstellen könntest. Und der Grat zwischen Recht und Unrecht ist schmal wie eine Messerklinge geworden, sodass ich mich mit jedem Schritt verletze, den ich gehe. Manchmal denke ich, wäre ich noch eine fahrende Ritterin, ich würde die Emerelle bekämpfen, die auf dem Thron Albenmarks sitzt. Vielen erscheine ich als eine Tyrannin. Vielleicht ist es der Fluch der Silberschale, der mich eines Tages zerbrechen wird. Ich kämpfe nicht mehr nur für die Lebenden, nein, meine Sorge muss auch den ungezählten Legionen derer gelten, die geboren sein wollen. Wie soll ich jenen, die sich beklagen, ich hätte ihnen ein Unrecht getan, begreiflich machen, dass ich Gerechtigkeit für ihre Urenkel geübt habe? Das will niemand hören. Ich kenne keinen anderen Wert, der so wandelbar ist wie die Gerechtigkeit. Keines der Elemente, von denen uns die Alchimisten erzählen, ist so flüchtig und wandelbar. Wie übt man Gerechtigkeit für ein Schaf, dessen Lämmer gerissen wurden? Indem man den Wolf tötet? Ist es nicht ungerecht, den Wolf zu verurteilen, weil er tat, wozu er erschaffen wurde? Ich versuche so zu herrschen, dass es möglichst vielen der Geschöpfe Albenmarks möglichst gut geht. Ich wahre Frieden, indem ich mit aller Härte die Gesetze verteidige, die uns einst von den Alben gegeben wurden. Niemand steht über diesen Gesetzen. Nicht einmal ich. Deshalb hatte ich keine andere Wahl, als Noroelle zu bestrafen, als sie ihr Dämonenkind in die Welt der Menschen brachte. Du weißt, dass sie lange meine Vertraute war und mir so nahe stand wie kaum eine Zweite.«
Selbst jetzt nach all den Jahren musste Obilee gegen ihre Tränen ankämpfen, wenn sie daran dachte, wie Noroelle verbannt worden war. In einem der Splitter der Zerbrochenen Welt gefangen zu sein, war eine Strafe, die grausamer war als der Tod. Wenn Elfen starben, gingen sie ins Mondlicht, oder sie durften darauf hoffen, eines Tages wiedergeboren zu werden. Doch niemand wusste, was mit jenen geschah, die in der Zerbrochenen Welt ihr Leben ließen. Es hieß, dass die Seelen dort gefangen waren oder sogar im Nichts vergehen mussten. Der Tod verhieß dort keine Hoffnung auf Erlösung. Die Seelen verloschen wie eine Kerze, die ein plötzlicher Windstoß löschte.
»Auch ich trauere um Noroelle«, sagte die Königin schwermütig. »Sie hat eine Lücke hinterlassen, die niemand zu schließen vermag. Es ist die Bürde eines langen Lebens, zu viele solcher Wunden in seinem Herzen zu tragen. Manchmal wird die Sehnsucht, vor allem zu fliehen, schier unerträglich. Es gibt wenig Trost, die Welt für jene zu retten, die nicht einmal geboren sind. Sie sind wie eine Zahl, eine vage Vorstellung. Man hegt kein tiefes Gefühl, das mit denen verbunden ist, die noch leben werden, außer vielleicht Verantwortung. Es sind die Augenblicke, in denen ich mein Dogma, Gerechtigkeit für möglichst viele zu üben, insgeheim umkehre. Ich stelle mir dann vor, die Zukunft für ...« Sie brach abrupt ab.
Obilee blickte sie forschend an. Hatte sie etwas getan, was die Königin beleidigte? Emerelle hielt die Augen geschlossen. Ihre Rechte ruhte noch immer auf ihrem Herzen. Alle Anspannung war aus ihrem Antlitz gewichen. »Fast hätte ich seinen wahren Namen genannt«, sagte sie leise. Dann sah sie Obilee durchdringend an. »Schon lange nicht mehr habe jemandem mein Innerstes offenbart, Obilee. Du weißt nun mehr um mich als selbst Noroelle. Lass deine Lippen das Siegel meiner Geheimnisse sein.«
Obilee fühlte sich betrogen. So viel Emerelle ihr auch offenbart hatte, das letzte Geheimnis behielt sie für sich. Die junge Elfe rang mit sich. Durfte sie es wagen, noch mehr zu fordern? Lieber wäre sie unwissend geblieben, als nur einen Zipfel der Wahrheit zu erhaschen. »Wenn du mich etwas lehren wolltest, Herrin, dann sag mir auch alles. Was stellst du dir vor, wenn du dein Dogma der Gerechtigkeit umkehrst?«
Das Lächeln Emerelles veränderte sich. Es wich zwar nicht von ihren Lippen, doch ihre Augen
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