Elfenlicht
Schwertmeister das Gegenteil behauptete, war sie sich ganz sicher, dass es die Lutin gewesen war, die das verbotene Buch an sich genommen hatte. Aber gefangen in seine Ideale von Ritterlichkeit, musste er sich schützend vor Ganda stellen. Dabei war sie doch nur eine unbedeutende Lutin. Die Welt würde ihren Verlust verkraften ... Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr setzte sich in Emerelle die Überzeugung fest, dass Ollowain sie zu eben diesen Gedanken hatte führen wollen. Vielleicht nicht als bewusste Entscheidung Es war die Art, wie er die Welt sah, die in diesem unlösbaren Konflikt gipfeln musste. Wie viel waren Emerelles hehre Ansprüche an eine gerechte Herrschaft wert, wenn es letztlich doch keine Sicherheit für den Einzelnen gab? Gut, Ganda hatte wirklich gegen Gesetze verstoßen. Sie wäre zu Recht verurteilt worden. Aber Emerelle war auch bewusst geworden, dass sie bereit gewesen wäre, Ganda zu opfern, selbst wenn sie nicht die Diebin gewesen wäre. So war ihre Herrschaft. Gut erinnerte sie sich, wie sie Obilee vor Jahren erklärt hatte, dass sie als gute Herrscherin einer größtmöglichen Menge von Untertanen das größtmögliche Glück schenken wolle. Das bedeutete in letzter Konsequenz die Aufhebung aller Gesetze, an die sie sich so gern klammerte. Niemand konnte sich in einer Welt sicher fühlen, in der die Herrscher dieser Maxime folgten. Es war egal, ob Ganda schuldig war oder nicht. Wenn sie die Lutin an die Hüter des Wissens auslieferte, wäre deren Ruf nach einem Blutgericht Genüge getan. Und die Welt brauchte Ollowain mehr als die Lutin. Er war der einzige Feldherr, der die Trolle vielleicht aufhalten konnte. Siegten sie, dann bedeutete das tausende Tote, brennende Städte und endloses Leid. Trotz der Warnung in Melianders Buch hatte sie die Zukunft weiterhin in der Silberschale betrachtet. Sie hatte die endlosen Flüchtlingsströme in der Steppe und auf den Pässen der Mondberge gesehen. Das brennende Feylanviek und all die Toten. War Gerechtigkeit diesen Preis wert? Wog das Leben der Lutin so schwer wie all das? Sie kannte die Antwort. Es ging nicht nur um die Lutin. Das hatte Ollowains Verhalten ihr klar gemacht. Niemand in Albenmark konnte sich mehr sicher fühlen, wenn sie über die festgeschriebenen Gesetze noch eine ungreifbare, höhere Gerechtigkeit setzte. Ganda war der Anfang. Doch jeder konnte jederzeit wie sie zum Opfer werden, wenn die abstrakte höhere Gerechtigkeit das erforderte. Jede gerechte Herrschaft wäre damit ad absurdum geführt.
Emerelle hatte nur schwer der Versuchung widerstanden, Ganda mit Hilfe der Silberschale zu suchen. Wenn es stimmte, was Meliander auf den letzten Seiten seines Buches geschrieben hatte, dann hätte die Silberschale sie gewiss zu der Lutin geführt. Und die Schale hätte Bilder gezeigt, die es Emerelle leichter gemacht hätten, die Koboldfrau zu verurteilen.
Die Königin hatte sich Ollowains Willen gefügt, die Lutin aus dieser Sache herauszulassen. Er und seine verfluchte Ritterlichkeit ...
Er hatte sich auch schützend vor sie gestellt. Seine klare Art hatte sie immer fasziniert. Sein Festhalten an den Grundsätzen der Gerechtigkeit. All das waren Eigenschaften, die ihn zu dem Mann machten, der seit Jahrhunderten ihr Herz gefangen hielt, obwohl er sie in seinen Reinkarnationen nie als seine frühere Liebe wiedererkannt hatte. Und nun schickte sie ihn auf den Richtblock! Sie, die ...
Das hohe Tor des Thronsaals schwang auf. Meister Alvias trat ein. Distinguiert wartete er am Tor darauf, dass sie ihn anblickte und zu sprechen aufforderte.
»Nun?«
»Reilif, Hüter des Wissens in der Bibliothek von Iskendria, ist eingetroffen und wünscht eine Audienz, Herrin. Soll ich ihn hereinbringen?«
Die Königin nickte. Sie hatte eine verzweifelte letzte List ersonnen, um Ollowain zu retten. Es war ein Spiel mit den Gesetzen. Aber was sie tat, tat sie in bester Absicht. Und sie würde sich dabei an das niedergeschriebene Recht halten.
Wenig später geleitete Alvias eine Gestalt in langer schwarzer Kutte in den Thronsaal. Das Gesicht des Hüters des Wissens blieb im Schatten seiner Kapuze verborgen. Er blieb respektvolle zehn Schritt vor dem Thron stehen. Der Hofmeister blieb an seiner Seite. »Ihr wisst, weshalb ich komme, Herrin?«
»Ja. Mich verwundert allerdings, dass du so spät kommst.«
»Ich bin den Dieben sofort gefolgt, Herrin.«
Emerelle stutzte. Reilif hatte fünfzehn Jahre gebraucht. War ihm das nicht klar? Sie
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