Elfenlicht
sich Kadlin ein. »Er hat Björn das Leben gerettet. Und mir auch. Er hat den Schneelöwen getötet.« Ulric konnte immer noch nicht fassen, dass Kadlin und Björn noch lebten. Es war richtig und ehrenhaft gewesen, den Troll ziehen zu lassen. Auch wenn sie an einem anderen Tag einander vielleicht als Feinde begegnen würden. Seit er als kleiner Junge den Ritter für Halgard gespielt hatte, hatte er nicht mehr so empfunden. Die widerstreitenden Gefühle drohten ihn zu übermannen. Er hustete verlegen, kämpfte gegen Tränen. Die anderen sollten nicht bemerken, wie aufgewühlt er war! »Was ist das für ein Fleisch?«, fragte er, um einen kühlen Ton bemüht.
Kadlin sah ihn an, als sei er ein Idiot. »Der Schneelöwe«, sagte sie schließlich. »Er ist zurückgegangen, um ihn zu holen. Dort unten vor der Höhle hat er ihn zerlegt. Und er hat Honig aus einem Bienenstock in einem hohlen Baumstamm geholt. Damit hat er das Fleisch eingerieben, um es haltbarer zu machen. Ohne ihn wäre Björn gestorben. Er hat die Blutung gestillt und seine Wunden mit kühlem Moos bedeckt.«
»Warum?«, fragte Eirik. »Welchen Nutzen hatte er davon? Trolle tun so etwas nicht!«
Kadlin sah sie hilflos an. »Ich hatte das Gefühl, dass er mich kennt. Ich ... Ich bin noch nie einem Troll begegnet, glaube ich. Außer ... Das hört sich verrückt an. Manchmal habe ich einen Traum. Ich bin noch sehr klein, und ich bin in einer Höhle. Mir ist sehr kalt. Um mich herum sind große Männer, die trotz der Kälte nackte Oberkörper haben. Einer reibt mir vorsichtig die Glieder. Seine Hände sind riesig, aber er ist sehr behutsam. Langsam wird mir dann warm. Und ich sehe Mutter. Sie nimmt mich in die Arme. Der Mann, der mir die Glieder gerieben hat ... Er hatte schlimme Narben auf der Brust. Narben, die aussahen wie ein Vogel. So wie dieser Troll welche hatte. Vielleicht war es ja kein normaler Traum. Vielleicht ...«
»Dummes Weibergeschwätz!«, schimpfte Eirik. »Der Kerl bezweckt irgendetwas. Und du bist ihm auf den Leim gegangen. Bist du dem Geräusch brechender Äste gefolgt, als du zu den umgestürzten Kiefern kamst? Denk nach, Kadlin! Kann es sein, dass er dich absichtlich in die Nähe des Schneelöwen gelockt hat?«
Die Jägerin sah Eirik verwundert an. »Das ... Ich weiß es nicht. Nein. Was soll diese Frage?«
»Vielleicht wollte er, dass der Schneelöwe euch angreift. So hatte er Gelegenheit, euch beide zu retten. Und nun fühlst du dich ihm gegenüber schuldig. Womöglich wollte er eben das erreichen.«
»Warum sollte es nicht einfach das sein, wonach es aussieht?«, fragte Kadlin zornig. »Wir waren in Not, und der Troll hat uns geholfen. Warum musst du eine verwickelte Intrige in die Ereignisse hineindeuten? Trolle sind halbe Tiere. Sie denken nicht lange. Sie handeln.«
»Seit ich ein Kind bin, leben wir im Krieg mit den Trollen. Sie sind grausame Menschenfresser. Und nun kommt einer daher und kümmert sich um dich und Björn. Das stinkt doch zum Himmel! Da steckt mehr dahinter.« Ulric hatte nicht viel übrig für Eirik, aber diesmal hatte er Recht. Das Mädchen stand ganz offensichtlich noch unter Schock und konnte die Wahrheit nicht erkennen.
»Du glaubst, mit diesem Troll stimmt etwas nicht?«, fragte Kadlin wütend. »Betrachte es doch einmal anders herum. Vielleicht stimmt mit dir etwas nicht, wenn du nicht hinnehmen kannst, dass mir und Björn von unerwarteter Seite etwas Gutes widerfuhr. Wäre es dir lieber, ich wäre tot, aber dein Bild über Trolle würde noch stimmen?«
»Es reicht jetzt, Kadlin!«, unterbrach Ulric sie scharf.
Eirik schüttelte wütend den Kopf. »Bleib mir gestohlen mit deinem verdrehten Unsinn, Mädchen! Ich weiß, was ich weiß. Wenn ein Troll sich plötzlich aufführt wie eine Glucke, dann steckt da mehr dahinter. Du wirst schon noch sehen, Kadlin.« Mit diesen Worten ging er zur Höhle hinaus.
»Ist er immer so?«, fragte Kadlin. Sie hatte sich auf einen Stein neben das Feuer gesetzt und massierte sich den Fußknöchel.
»Er ist der Einzige aus seiner ganzen Sippe, der den Elfenwinter überlebt hat. Wundert es dich da, dass in seiner Welt kein Platz ist für einen Troll, der keine reißende Bestie ist?«
DER KNIEFALL
Orgrim betrachtete die Bauarbeiten unten am Pass mit gemischten Gefühlen. Er stand verborgen zwischen Felsen, die fast die Farbe seiner Haut hatten. Völlig reglos blickte er auf die große Baustelle am Pass. Zu hunderten waren die Menschen gekommen, und ihre Arbeit machte
Weitere Kostenlose Bücher