Elfenlicht
nachzuvollziehen, wie dies dem Tier gelang. War es die Kraft seiner Gedanken, die Landschaften verwischen ließ wie in einem Traum? Genügte es, an einen Ort nur zu denken, um ihn zu erreichen? Und warum kannte die Kreatur diese Welt so gut? So wie der Abt es verstanden hatte, hielt ein mächtiger Bannzauber die Schattengestalten aus der Welt der Elfen fern. Wie konnte das Tier dann so viel über diesen Ort wissen?
Er lauschte in sich hinein, doch der dunkle Teil ihrer verschmolzenen Seelen mochte ihm nicht antworten. Geschwätzig war das Tier nur, wenn es darum ging, andere zu quälen.
Die Burg mit ihren weißen Mauern und schlanken Türmen erhob sich hell gegen den grauen Herbsthimmel. Regenschauer zerwühlten den Spiegel des Sees. Ganz in der Nähe des Ufers hatte jemand bunte Steine ins Wasser gelegt. Sebastien hockte unter dem ausladenden Blätterdach zweier Linden. Obwohl er Regen nicht zu scheuen brauchte, hatte er aus alter Gewohnheit Zuflucht gesucht. Der Ort lud zum Verweilen ein. Und er erweckte eine fremde Sehnsucht. Etwas war bei der Burg. Das Tier fühlte sich zu ihr hingezogen und fürchtete sie zugleich. Seit sie miteinander verschmolzen waren, hatte Sebastien allein Hass und Hunger als die beherrschenden Gefühle der Schattengestalt kennen gelernt. Nun glaubte er Sehnsucht zu spüren.
»Du weißt nichts von meinen Gefühlen«, erklang die Stimme in seinen Gedanken, die so lange geschwiegen hatte. »Für einen Ordensbruder findest du erstaunlich viel Gefallen an jungen flachbrüstigen Weibsbildern. Du solltest einmal die Apsaras kennen lernen. Wassernymphen, so schön, dass dir die Seele brennt, wenn du sie siehst. Ich werde es genießen, sie mit dir gemeinsam zu töten und mich an deinen Qualen zu weiden.«
»Warum tust du all das?«, fragte Sebastien.
»Weil ich es kann.«
Das Bild der Burg verwischte. Die Landschaft zerschmolz. Doch Sebastien hatte das Gefühl, dass das Tier hierher zurückkehren würde. Etwas in der Burg lockte es.
DER BLICK DER BLINDEN
Erschöpft vergrub Ulric sein Gesicht in Halgards rotem Haar. Das Liebesspiel hatte ihm den Atem genommen. Jedes Mal, wenn sie beieinander lagen, liebten sie sich mit fast schmerzhafter Hingabe. Denn jedes Mal lag der Schatten des verfluchten Geschenks über ihnen. Und sie fürchteten, es könne das letzte Mal gewesen sein.
»Blut frisst nicht«, sagte Halgard leise.
Ulric dachte an den großen, alten Hund, mit dem ihrer beider Leben verbunden war. Er war stark. Er weigerte sich zu sterben. Mindestens siebzehn Jahre lebte er nun schon. Das war viel länger, als sie zu hoffen gewagt hatten. Aber nun wurde er von Tag zu Tag hinfälliger. Den Winter würde Blut wohl nicht überstehen, ganz gleich, wie trotzig er dem Tod auch entgegenbellte.
Ulric drückte Halgard enger an sich. Geistesabwesend spielte er mit ihrem Haar. »Woran denkst du?«
»Was glaubst du, warum die Götter uns die Fähigkeit gegeben haben, nicht jeden Gedanken auf unseren Lippen zu tragen?«
»Daran denkst du?« Halgard knuffte ihn mit dem Ellenbogen. »Schelm!«
Ulric drehte sich, sodass er auf ihr lag, und sah ihr ins Gesicht. Blasse Sommersprossen umgaben ihre Nase. Ihre Lippen waren noch immer dunkel von den Blaubeeren, die er ihr mitgebracht hatte. Blau ... Er dachte an den Mann im blauen Mantel. Bruder Jules. Warum hatte er ihnen das angetan? Ein Hundeleben zu leben. Warum lud man Kindern einen so schrecklichen Fluch auf? »Ich dachte daran, wie blind jene sind, die schon immer sehen konnten«, sagte Halgard unvermittelt.
»Gefällt es meiner Hauspriesterin, in Rätseln zu sprechen?«
»Ich lasse halt nichts unversucht, um dir die Augen zu öffnen.« Sie sagte das in ernstem, fast barschem Tonfall.
»Habe ich dich beleidigt?«
Halgard seufzte. »Nein.« Sie zerzauste ihm das lange Haar. »Ist dir bei Kadlin nichts aufgefallen?«
»Björn singt wahre Lobeshymnen auf ihr wunderbares Hinterteil. Ich finde es etwas schmal und knabenhaft. Doch davon abgesehen ist sie recht hübsch ...«
Halgard zog ihn an den Haaren. »Kannst du nicht einen Augenblick ernst sein?«
Ulric schnaubte. Mangelnden Ernst warf man ihm beileibe nicht oft vor. Unter seinen Gefährten galt er als zu kühl und selbstbeherrscht. Er wusste von Björn, dass sie erst dann wirklich unbeschwert miteinander umgingen, wenn er nicht in der Nähe war. »Ich glaube, im Augenblick würde ich lieber in den Armen eines Trolls liegen.« Halgard stieß ihn von sich.
»Bist du dir im Klaren darüber,
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