Elfenlicht
Kentauren, dass er an die Seite der Fürsten und Stammesführer berufen wurde, um Orimedes das letzte Geleit zu geben.
Plötzlich drängte sich Katander zwischen den Stammesführern und Totenträgern hindurch. Er rief einem seiner Krieger am Fuß der Rampe etwas zu, und ein großes Doppelschwert segelte durch die Luft. Geschickt fing er es auf und drehte sich zu Nestheus um. Melvyn ließ seine Stahlkrallen aus den Armschienen schnappen, doch er wusste, dass er zu spät kommen würde. Nestheus, der unbewaffnet gekommen war, griff nach dem Schwert seines toten Vaters.
Statt den Fürstensohn anzugreifen, rammte Katander das Doppelschwert in den gefrorenen Boden.
»Du bist dem Ruf deines Herzens gefolgt. Ich kann dir nicht vorwerfen, dass du ehrlich gehandelt hast. Hättest du meine Tochter zum Schein zum Weibe genommen und in Wahrheit eine andere geliebt, hättest du meinem Haus weit größere Schande bereitet als durch deine Flucht während des Leichenschmauses für Ollowain.« Er umfasste Nestheus‘ Handgelenk im Kriegergruß. »Du hast in den vergangenen Monden großen Mut und große Klugheit bewiesen. Das sind die Tugenden eines Mannes, der zum Anführer geboren ist. Du hast durch deine Taten selbst die Herzen meiner Männer betört. Ich weiß, dass du in Uttika für kurze Zeit Zuflucht gefunden hast. Besiegeln wir bei der Leiche deines Vaters den Bund, den er sich im Leben so sehr gewünscht hatte.«
Melvyn hielt verblüfft den Atem an. Würde Katander noch einmal versuchen, seine Tochter zu vermählen?
»Ich unterwerfe mich dir als dem Kriegsherrn aller Kentauren. Verfüge über meine Panzerreiter, Fürst Nestheus vom Windland. Sie werden deinen Befehlen gehorchen. Ich werde dich als Kriegsherrn respektieren und dir die Treue halten. Doch erwarte nicht, dass ich dich lieben werde. Dafür hast du meine Tochter zu tief gekränkt.«
Einen Augenblick herrschte Schweigen. Dann trat Maktor vor Nestheus und leistete ihm den Treueid. Auch die übrigen Fürsten folgten seinem Beispiel. Nachdem auch der Letzte von ihnen seine Gefolgschaft gelobt hatte, wurde der Leichnam des Orimedes erneut angehoben, und in feierlichem Schweigen traten sie in den Grabhügel.
Melvyn fühlte sich beklommen in der uralten Gruft. Senthor hatte ihm am Abend zuvor einiges über die Fürstengräber der Pferdemänner erzählt. Vor vielen Jahrhunderten waren sie von den fuchsköpfigen Lutin erbaut worden. Zunächst hatte man die Grabgewölbe aus Stein errichtet, dann waren über ihnen die großen Erdhügel aufgeschüttet worden. Die steinernen Tore wurden mit einem mächtigen Bannspruch versiegelt, und nach jedem Begräbnis schüttete man den Weg ins Innere des Hügels wieder zu, sodass die Gräber am Ende aussahen wie all die anderen Hügel, die sich in der weiten Ebene des Windlands befanden.
Und noch eine weitere Bewandtnis hatte es mit den Grüften der Pferdemänner. Die Leichen, die man in sie trug, verrotteten dort nicht. Dies war der eigentliche Auftrag, den man den Baumeistern der Lutin einst erteilt hatte. Sie sollten Gräber erschaffen, in denen die Leiber der toten Fürsten und Stammesführer unbeschadet die Jahrhunderte überstanden, denn nach dem Glauben der Pferdemänner würden die Alben eines Tages zurückkehren, um in den Ebenen des Windlands eine letzte Schlacht gegen ihre wiedererstandenen Feinde zu schlagen. Wenn dies geschah, würden sich die toten Fürsten und Helden des Kentaurenvolkes noch einmal erheben, um an der Seite der Weltenschöpfer in den Kampf zu ziehen.
Gestern Abend hatte sich diese Geschichte wie eines der Märchen angehört, die man sich erzählte, um die langen Stunden der Winterabende zu verkürzen. Doch hier unten erschien Melvyn das alles in einem anderen Licht. Ein schwerer, fast betäubender Geruch nach Weihrauch und Fichtennadeln hing in der Luft. Und noch ein anderer Duft, der fast völlig überlagert wurde. Es roch nach Blut!
Gleich am Eingang der Gruft lehnten Speere mit bronzenen Stichblättern in einem Holzgestell. Senthor nahm eine der Waffen an sich.
Der Tunnel, der tiefer in die Gruft führte, war leicht abschüssig. Die gemauerten Wände bestanden aus hellem Sandstein, auf den einfache Strichzeichnungen aufgetragen worden waren. Sie zeigten das Leben der Pferdemänner. Ihre Wanderschaft mit den Herden, ihre Kriegszüge, und eines der Bilder stellte offenbar eine Totenfeier dar.
Fackeln erleuchteten den Tunnel in unregelmäßigen Abständen. Nischen waren in den Wänden ausgespart.
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