Elfenliebe
»Und es gibt so viele von ihnen.«
Laurel verdrehte die Augen.
»Natürlich kennt ihr zwei euch schon so lange. Das ist dann etwas anderes, denke ich.«
Laurel nickte, auch wenn das nur die halbe Wahrheit war. Soweit sie sich erinnern konnte, kannte sie Tamani erst ein knappes Jahr. Dennoch waren ihr alle anderen Elfen, denen sie täglich begegnete, nicht halb so vertraut – jedenfalls, soweit sie sich erinnern konnte. »Bis nachher dann«, sagte sie fröhlich, und die Müdigkeit der letzten Wochen war nahezu verflogen.
»Wie lange bleibst du weg?«, fragte Katya noch mit großen Augen.
So lange es geht, hätte Laurel am liebsten geantwortet, doch sie sagte: »Ich weiß es nicht. Aber wenn ich dich heute Abend nicht mehr sehe, dann morgen.«
Katya schien nicht überzeugt. »Du solltest nicht allein mit ihm gehen. Vielleicht kann Caelin dich begleiten.«
Laurel unterdrückte das Bedürfnis, noch einmal die Augen zu verdrehen. Caelin war, durch welchen Zufall auch immer, der einzige männliche Herbstelf in ihrem Alter. Selbst mit seiner mickrigen Statur und seiner Piepsstimme wollte er noch die Beschützerrolle für all seine »Damen«, wie er sie nannte, spielen. Das hatte Laurel gerade noch gefehlt: Ein Herbstelf an ihrer Seite, der versuchte zu beweisen, dass er besser als jedes andere männliche Wesen war, dem sie begegneten. Und das genau würde Caelin tun.
Sie wollte sich nicht einmal vorstellen, wie Tamani darauf reagieren würde.
Ein Grinsen huschte über ihr Gesicht. Andererseits wäre das vielleicht auch ganz interessant. Caelin machte nicht den Eindruck, als könnte er länger als zehn Sekunden vor Tamanis Augen bestehen. Sie würde es schon genießen, wenn er ihn auf seinen Platz verwies – allerdings längst nicht so sehr wie die Zeit mit Tamani allein. »Glaub mir, Katya, ich brauche keinen Anstandswauwau. «
»Wenn du meinst«, grinste Katya und fügte ebenso ernst wie unsicher hinzu: »Viel Vergnügen.«
»Wohin gehen wir heute?«, fragte Laurel, nachdem sie und Tamani ihre Scharade vollzogen hatten, was hieß, förmlich und schweigend über das Akademiegelände und zum Tor hinauszuschreiten.
»Was meinst du wohl?«, fragte Tamani grinsend und zeigte auf den großen Weidenkorb, der an seinem linken Arm hing.
»Ich fragte, wohin wir gehen – nicht, was wir machen. « Aber sie war nicht verstimmt. Es tat ihr so gut, die Akademie zu verlassen – den frischen Wind im Gesicht zu spüren, die weiche Erde unter ihren Füßen … und Tamani, der hinter ihr ging, aus dem Augenwinkel zu beobachten. Am liebsten hätte sie die Arme ausgebreitet, sich umgedreht und gelacht, doch sie beherrschte sich.
»Das wirst du schon sehen«, sagte er und geleitete sie mit seiner Hand auf ihrem Rücken einen Weg entlang, der von den Häuserreihen wegführte, die sie beim letzten Mal durchstreift hatten. »Ich möchte dir etwas zeigen. «
Der Weg wurde schmaler und führte bergan. Als sie die Spitze des hohen Hügels erklommen hatten, traute Laurel einen Moment lang kaum ihren Augen. Die ausgedehnte Hügelkuppe lag im Schatten eines riesigen Baumes mit langen Ästen, die weit auseinanderragten. Von Weitem erinnerte er an eine Eiche – nur mit filigranen, länglichen Blättern, aber statt eines hohen, stattlichen Stammes war dieser unglaublich knorrig, gedrungen und unförmig. Selbst das mächtigste aller Rothölzer im Redwood Nationalpark, der an ihr Grundstück bei Orick grenzte, hätte kümmerlich neben ihm ausgesehen.
Abgesehen von seiner enormen Größe schien er nicht allzu ungewöhnlich zu sein, doch als Laurel in den Schatten seiner weit ausladenden Äste trat, schnappte sie nach Luft. Sie fühlte etwas – etwas, das sie nicht beschreiben oder erklären konnte. Als ob die Luft unter dem Baum dicker wurde und wie Wasser um sie herumwirbelte.
Lebendiges Wasser, das in ihre Atemluft sickerte und sie rundum ausfüllte.
»Was ist das denn?«, keuchte sie, als sie ihre Stimme wiedergefunden hatte. Laurel hatte nicht einmal bemerkt, dass Tamani inzwischen neben ihr stand und seine Hand beruhigend an ihre Taille gelegt hatte.
»Das ist der Weltenbaum. Er besteht… aus Elfen.«
»Wie …« Laurel wusste nicht einmal, wie sie ihre Fragen formulieren sollte.
Tamani runzelte die Stirn. »Wie soll ich sagen – das ist eine lange Geschichte.« Er führte sie näher an den Stamm heran. »Vor Abertausenden von Jahren – noch bevor es Menschen gab – sprossen Elfen in den Wäldern von Avalon. Der Sage
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