Elfenmeer: Roman (German Edition)
Richtung sah. Jetzt wusste er, dass Arn das Geheimnis kannte, und wie immer waren ihm seine Gefühle ins Gesicht geschrieben. Marinel konnte nicht verstehen, wieso er dermaßen litt, wenn er sich doch eigentlich freuen müsste. Aus Liebe. Was hatten seine Worte nur bedeutet? Warum kümmerte er sich jetzt um diese Menschenfrau, obwohl sie zum Feind gehörte, und schloss sich nicht Arns Gräueltaten an? Weshalb verhielt er sich im einen Moment ehrenhaft, um sie dann im nächsten fallen zu lassen? Sie konnte ihn nicht länger ansehen, und jetzt war auch nicht der rechte Zeitpunkt, um sich über Valuar den Kopf zu zerbrechen. Es galt, einer Piratin ein wenig Gerechtigkeit zuteilwerden zu lassen, denn sie waren Ritter.
»Nein.« Sie blickte wieder zu Arn hoch und wusste, dass Valuar ihren Worten sehr genau lauschte. »Ich würde niemals Rache üben. Rache mag für den Moment süß erscheinen, doch auf lange Sicht gesehen zerstört sie uns nur. Ich habe dir nie etwas anderes gesagt, Arn. Ich dachte, du wärest fähig, aus deiner Dunkelheit herauszufinden, doch ich habe mich getäuscht.« Sie zog ihre Hand zurück, langsam, aber nachdrücklich. »Du hast etwas Unverzeihliches getan, Arn. Ich glaube, du bist nicht mehr zu retten.«
Seine Mandelaugen starrten sie an, und Marinel starrte zurück, unnachgiebig und gefühllos. Was Arn getan hatte, konnte mit nichts entschuldigt werden, und Marinel konnte nicht zulassen, dass sich ein Mann wie er mit ihr verbunden fühlte. Er hatte gesagt, sie wären eins, aber das stimmte nicht. Jetzt konnte sie ihm nur noch die Wahrheit aufzeigen, damit er das, was er für sie zu fühlen meinte, begrub und vergaß. Es war nur ein Kuss gewesen, ein Augenblick … ein Moment der Freiheit. »Geh, Arn. Valuar und ich werden diese Frau jetzt versorgen, damit sie für ihren Prozess kräftig genug ist. Wir werden aufpassen, dass ihr bis dahin kein weiteres Leid mehr geschieht, und du wirst uns nicht daran hindern.«
»Marinel …«
Sie schüttelte den Kopf. »Es ist zu spät, Arn. Wir haben uns beide ineinander getäuscht. Nun geh.«
Avree
Das Wasser war warm und modrig, ständig strichen Algen über seine Hände, und der Geruch von Salz und Jod brannte in seiner Nase. Aber Avree ließ sich davon nicht aufhalten. Er hatte ein Ziel, und nichts konnte ihn stoppen. Außerhalb von Riniel, am Rande der Versenkungsbucht, hatte er sich den Fluten ergeben, um durch den Hafen und nicht über Stadtmauern in Riniel einzudringen. Die Gefahr, entdeckt zu werden, war über den Wasserweg geringer, und davon hing alles ab. Er wollte hineingehen, Nayla holen und wieder verschwinden. Wie ein Schatten – als wäre er nie da gewesen. Er war zwar mächtig, aber mit ganz Riniel könnte er es wohl nicht aufnehmen.
Die Stille hier draußen auf dem Meer war fast schon unwirklich. Natürlich hörte er immer noch das Rauschen der Wellen und das Knarzen der Schiffskörper, aber keine Stimmen waren zu vernehmen, alles schlief. Im Anbetracht seines inneren Aufruhrs kam ihm die ruhige Nacht fast schon verhöhnend vor. Zu seiner Gemütslage hätten Regen und Sturm gepasst, seine Angst hätte von peitschenden Wellen und zerrenden Böen überlagert werden sollen, aber inmitten dieser Stille waren seine Gedanken viel zu laut. Er sah Nayla vor sich, tot, gefoltert, zerstört. Er fürchtete, zu spät zu kommen, hatte Angst vor dem, was ihn erwartete.
Diese Angst müsste ihn eigentlich zurückhalten und lähmen, doch stattdessen trieb sie ihn an. Er sah bereits das Netzin der Dunkelheit schimmern, das die Meerjungfrauen am Eindringen hinderte. Dabei wagten diese sich ohnehin kaum aus ihrer Bucht. Das Wasser war ihnen anderswo entweder zu kalt oder zu warm, zu salzig oder zu süß, zu blau oder zu grün … Wer wusste schon, was Meerjungfrauen antrieb – wer, außer Koralle?
In der Hoffnung, unentdeckt zu bleiben, kletterte er über das mehrere Fuß hoch gespannte Netz und ließ sich auf der anderen Seite fast lautlos zurück ins Meer gleiten, um weiter zwischen den Schiffen der königlichen Flotte zum Ufer zu schwimmen.
Wachen marschierten hier und da zwischen den Scheunen der Schiffsbesitzer und Händler umher, und Laternen erhellten die Kais. Aber Avree fiel es leicht, sich zwischen ihnen hindurchzuschleichen, nachdem er sich an einem Steg hochgehangelt hatte. Jetzt musste er nur noch den vielen verschlungenen Gassen folgen, die alle irgendwann zum Palast führen würden. Solange er sich bergauf und nicht bergab bewegte,
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