Elfenmeer: Roman (German Edition)
einen Blick, dann wandte einer von ihnen den Kopf zur Seite, und die anderen machten sich sofort daran, das Tor zu öffnen.
»Verbindlichsten Dank«, murmelte Valuar, als er mit überwältigender Hochnäsigkeit an den Wachen vorbeischritt und sich im Hof umsah.
»Wo finde ich den Fürsten?«, wollte er dann von den Wachen wissen, aber Marinel ließ diese gar nicht zu Wort kommen.
»Der Halbelf«, sagte sie schnell. »Der Pirat, wo ist er?«
Erneut warfen sich die Wachen Blicke zu, dann trat einer von ihnen vor und wies auf einen der Türme, der die Ringmauer durchbrach. »Bei der Gefangenen. Er wollte mit ihr allein sein. Hab ihn gelassen, werde aber bald nachsehen – die Schreie lassen nichts Gutes vermuten. Außerdem …«
Marinel wartete nicht länger und stürmte los. Der Windblies ihr Staub von den Pflastersteinen ins Gesicht, und durch die feuchte Luft klebte ihr das Haar am Hals, aber all das war unwichtig, als sie die Holztür öffnete und einen markerschütternden Schrei vernahm.
»Bei den Sternen«, flüsterte sie und hielt einen Moment lang wie erstarrt inne. Ihre Augen brauchten ein paar Augenblicke, um sich nach dem grellen Licht draußen an die Dunkelheit zu gewöhnen, aber dann sah sie die Wendeltreppe, die sowohl hinauf als auch hinab führte. Von unten her hörte Marinel Stimmen, also folgte sie den Stufen und riss eine weitere Tür auf.
Fackelschein blendete sie im ersten Moment, und sie konnte lediglich eine Gestalt auf einem Stuhl und eine weitere, die über sie gebeugt stand, erkennen. Doch dann nahmen die Konturen an Schärfe zu, bekamen Farbe, und Marinel erkannte eine Menschenfrau und Arn.
»Gütige Seelen«, vernahm sie Valuars entsetztes Keuchen an ihrer Seite, und auch Marinel hatte plötzlich Mühe zu atmen. Der Gestank von Blut war so beherrschend, dass er durch ihre Nase in ihren Kopf zu kriechen schien, um sie dort wie Nadelstiche zu traktieren.
Die Ursache für diesen Geruch war nicht schwer zu finden. Um den Stuhl herum hatte sich das Stroh dunkelrot gefärbt, und dazwischen lagen helle Klümpchen.
Sie musste unwillkürlich würgen, als ihr Blick auf die blutige Fleischmasse fiel, die an eine Stuhllehne gefesselt war und einmal eine Hand gewesen war. Sie sah zurück ins Stroh und hielt den Atem an. Es waren Fingerglieder! Stück für Stück abgeschnitten. Finger!
»Marinel …«
Ein heiserer Laut, voller Unglauben und Entsetzen, und als Marinel den Kopf hob, begegnete sie Arns Blick. Er hielt einStück Pergament und eine Feder in der Hand, aber die Sterne an seinem Gürtel waren von einem roten Film bedeckt.
»Wie ist das … Marinel, wie …« Er taumelte zwei Schritte auf sie zu und hielt dann wieder inne. »Du lebst.«
Marinel erwiderte den starren Blick und fühlte sich plötzlich leer. Sie wusste nicht, was sie empfinden sollte. Arn war für sie ein Funke Ehrlichkeit in einer Welt der Lügen gewesen. Eine schimmernde Hoffnung auf Ritterlichkeit, die jetzt vor ihren Augen zu Staub zerfiel. Er hatte ihr ihren ersten Kuss geschenkt, eine Welt jenseits von Schwertern und Krieg offenbart. Und jetzt stand er da, blutbesudelt und vernichtet. Alles, was sie einst in ihm gesehen hatte, war tot. Es war keine Liebe gewesen, dafür hatten sie sich zu wenig gekannt, und dafür liebte Marinel ihre Königin, ihre Aufgabe und ihr Ziel viel zu sehr. Doch warum konnte sie dann den Blick nicht von ihm abwenden? Warum zitterte sie wie Laub im Herbstwind? Er war ihr nicht gleichgültig gewesen. Er war es immer noch nicht.
Wenn nur dieser Gestank nicht wäre. Wenn nur all das Blut nicht wäre. Was war nur los mit dieser Welt?!
»Marinel, schnell, hilf mir.« Valuars Stimme riss sie aus ihrer Starre. Wie durch Nebel sah sie seine Gestalt im blauen Hemd, die zu der zusammengesunkenen Menschenfrau eilte. Rasch beugte er sich zu ihr herunter und begann, ihre Fesseln zu lösen.
Marinel blinzelte. Ihr Körper schien an Fäden zu hängen, denn sie bemerkte kaum, wie sich ihre Beine bewegten. Sie wollte auch zur Piratin gehen, um Valuar zu helfen, doch Arn verstellte ihr den Weg. Mit gehetztem Blick sah er zwischen ihr und Valuar hin und her. »Lasst sie in Ruhe!« Er ging auf Valuar zu, packte ihn an der Schulter und riss ihn weg. »Damit hast du nichts zu schaffen, Fürstensohn! Dies ist eine Sache zwischen ihr und mir.«
Valuar sprang mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung auf die Beine. »Du hast sie gefoltert, Pirat!«, stieß er voller Verachtung hervor. »Ihr gebührt ein
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