Elfenmeer: Roman (German Edition)
immer noch eine von euch.«
»Nein.« Elrohir schüttelte den Kopf. »Man kann nicht beides sein. Du hast es versucht, und sieh, wohin es dich gebracht hat.«
Marinel senkte den Kopf und schloss die Augen. Manchmal spürte sie immer noch die Kälte ihres eisigen Gefängnisses im Gletscher, und dieser Schmerz würde nie wieder vergehen. Sie hatte niemandem verraten, dass sie sich an jede Sekunde des Sturzes erinnerte. Sie wusste, was er getan hatte. Doch was hätte es ihr genützt, die Wahrheit zu sagen? Ihr Wort hätte gegen seines gestanden. Das Wort eines Stallmädchens gegen das von Valuar von Valdoreen, dem Nachfolger des berühmten Nevliin von Valdoreen. Er hätte einfach nur sagen brauchen, dass sie den Halt verloren oder dass sich ihr Handschuh gelöst hatte. Er hätte es als Unfall darstellen können. Der Befehlshaber hätte geglaubt, sie wäre vom Sturz verwirrt gewesen oder sie wollte Valuar aus Konkurrenzgründen schaden. Aber sie kannte die Wahrheit. Sie wusste, dass es kein Unfall war. Er hatte einfach losgelassen.
»Marinel …«
Sie schüttelte den Kopf, wollte nichts hören und nichts sagen. »Kannst du mich nicht einfach mal in Ruhe lassen?«, wisperte sie und starrte auf ihre löchrigen Stiefel. »Geh und bewundere die Königin. Dieses Schauspiel gibt es nur alle hundert Jahre zu sehen, also geh.«
»Nein.« Elrohir umschlang sie mit seinen Armen und drückte sie an seine Brust. »Ich bin doch nur deinetwegen hier, Marinel. Ich wusste, dass du mich brauchst, und deswegen werde ich auch bleiben.«
»Obwohl ich von Bitternis erfüllt bin?«, fragte sie in sein nach Pferden und Stroh riechendes Hemd.
Ein Lachen ließ seine Brust erzittern. »Obwohl du von Bitternis erfüllt bist«, sagte er und streichelte ihr über den Kopf.
Marinel schmiegte sich an ihn und vergaß für einen Moment völlig, dass er sich als Halbwüchsiger von ihr hatte trösten lassen. Der Mörder im Auftrag der Sonnentaler Fürsten hatte ihn als Einzigen davonkommen lassen. Elrohir hatte ihr von jenem Tag erzählt. Er hatte versucht zu kämpfen, aber er war doch nur der Sohn einer Köchin gewesen, der seine Tage im Stall verbracht hatte. Gegen einen Krieger der Schlangenschilde – wie die Garde Fürst Daerons sich genannt hatte – war er machtlos gewesen. Der Mörder hatte ihn bereits an der Kehle gepackt gehabt, bereit, sein Messer in Elrohirs Leib zu stoßen, doch plötzlich hatte er losgelassen. »Geh«, hatte er gesagt, und Elrohir hatte bei der Erzählung vor Kummer und Angst gezittert. »Lauf weg, und wenn du weißt, was gut für dich ist, dann lässt du dich nie wieder im Sonnental blicken.« Für seine Mutter und seinen Ziehbruder hatte er nichts mehr tun können, und so war er bis Lurness gereist und hatte sich dort als Stallknecht verdingt. Sein besonderes Gespür fürPferde hatte ihm einen schnellen Aufstieg beschert, sodass er jetzt der Liebling von Stallmeister Melovin war und die Pferde der Königin betreute. Marinel war ebenfalls schon so lange im Stall beschäftigt, wie sie zurückdenken konnte. Sie war als Säugling in einer freien Box im Heu gefunden worden, sie wusste nicht, wer ihre Eltern waren. Es kümmerte sie auch nicht. Meister Melovin hatte sich ihrer angenommen und ihr einen Platz im Stall gegeben. Doch Marinel war nie mit solcher Leidenschaft bei der Arbeit gewesen wie ihr Freund Elrohir. Sie sah ihre Bestimmung woanders. Aber jetzt musste sie sich wohl nach einem anderen Lebensziel umsehen. Sie würde niemals ein Ritter werden.
Mit beiden Händen drückte sie sich von Elrohir weg und blickte zu ihm auf. »Lass uns gehen«, bat sie ihn. »Die anderen werden mich nicht vermissen.«
Elrohir öffnete den Mund zu einer Erwiderung, aber Marinel ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen. »Nein«, sagte sie barsch. »Ich bin keine mehr von ihnen. Ich bin jetzt wieder Marinel, das Stallmädchen. Das ist in Ordnung. Aber ich habe hier nichts mehr zu suchen. Meine Aufgabe ist es jetzt, zu lernen, wie ich mit links eine Schaufel halten kann. Also bitte …« Ein Schatten hinter Elrohir zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. »Was …« Sie ging an ihm vorbei und blickte aufs Meer hinaus. Der Vollmond schien hell, kein einziges Wölkchen schob sich davor, und obwohl es weit weg war, konnte Marinel die Umrisse eines Schiffes erkennen. »Sieh nur«, hauchte sie verblüfft und deutete in die entsprechende Richtung. »Kannst du das Schiff dort sehen?« Die Segel leuchteten hell wie Signalzeichen in der Dunkelheit,
Weitere Kostenlose Bücher