Elfenmeer: Roman (German Edition)
Einzig ihre Arme waren frei, und so trommelte sie mit ihren Fäusten unentwegt auf seinen Rücken. »Lass mich sofort runter! Wie kannst du dich vor der Königin nur so aufführen?!«
»Ich habe mich doch galant verhalten.« Er eilte mit ihr, von der Kabine der Königin fort, durch die düsteren Gänge und stieß schließlich mit der Schulter die Tür zur Kapitänskajüte auf. Er musste sich ducken, damit er weder sich selbst noch Nayla verletzte, und auch in diesem Raum konnte er gerade noch aufrecht stehen.
Noch brach kein Licht durch die großen Glasflächen, die eine ganze Schiffsbreite am Heck einnahmen, doch an den Wänden neben der Tür spendeten zwei Miranlampen sanftes Licht.
Mehr brauchte Avree nicht, um mit ihr den Raum zu durchschreiten und sie vor der Galerie auf dem festgezurrten Tisch abzusetzen.
Nayla hörte das Rascheln von Karten unter sich, die dort ausgebreitet lagen, und etwas, das nur ihr Fernglas sein konnte, fiel polternd zu Boden.
»Ich schwöre dir, wenn das kaputt ist …«
Avree schob sich zwischen ihre Beine und küsste sie auf denHals. »Du brauchst dieses Ding doch nicht. Ich habe Augen wie ein Adler.«
»Das hilft mir, wenn du auf deinem Schiff bist und ich auf meinem. Ihr Elfen glaubt ja auch wirklich, ihr könnt alles besser.«
Avree schob ihre Bluse von der Schulter und küsste ihr Schlüsselbein. »Ich weiß, dass ich das kann.«
Ein tiefer Seufzer entfuhr ihr, als ihr klarwurde, dass sie jetzt kein Gespräch mit ihm führen konnte. Einen Moment lang war sie hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, ihm einen Eimer voll Wasser über den Kopf zu gießen, und dem Verlangen, einfach weiterzumachen. Seine Lippen fühlten sich warm auf ihrer Haut an und kitzelten. Ein kribbelndes Gefühl, das sich von der geküssten Stelle durch ihren ganzen Körper ausbreitete, ließ sie kichern. Wie sollte sie hierbei noch den Verstand bewahren? Es war ohnehin schon schwer genug, inmitten einer Bande Verrückter einen klaren Kopf zu behalten.
»Du willst tatsächlich keine Zeit verlieren, hm?«, murmelte sie und zog ihm das Piratentuch vom Kopf, um ihre Finger durch sein feines Haar gleiten zu lassen. »Drei Tage, Avree, es waren nur drei Tage, die wir uns nicht gesehen haben.«
»Ich weiß.« Er richtete sich auf und blickte sie mit seinen glutroten Augen an. Draußen brach allmählich der Tag an, und so konnte sie sehen, wie sich seine hellen Brauen zusammenzogen. »Ich kann nicht glauben, dass ich drei Tage meines Lebens damit vergeudet habe, auf meinem Schiff zu sein, getrennt von dir. Die Zeit läuft uns davon. Wir sterben.«
Nayla presste die Lippen aufeinander und legte ihre Hand auf seine Brust, um den Schlag seines Herzens zu spüren. Allein der Gedanke, dass es jemals stehen bleiben würde, bereitete ihr Übelkeit. Es schlug doch schon seit Abertausendenvon Jahren und hatte so viel überstanden, doch jetzt sollte ausgerechnet sie, Nayla, ihm zum Verhängnis werden.
»Du musst nicht …«, begann sie ein ums andere Mal, doch wie erwartet unterbrach Avree sie mit einem energischen Kuss. Er legte seine Hand auf ihren Hinterkopf und zog sie näher zu sich heran, während er seinen anderen Arm um ihren Oberkörper schlang, sodass sie von ihm umschlossen wurde. In dieser Umarmung schien ihr niemals etwas geschehen zu können, ganz so, als wäre sie von der Welt abgeschottet, und so schmiegte sie sich an ihn und erwiderte den Kuss, wenn auch deutlich sanfter. Seine Energie und Ungeduld rissen sie mit sich und belebten sie, doch manchmal wurde es ihr auch zu viel. Sie genoss es, dass er sein Leben in die Hand nahm und nicht untätig verharrte, aber die Geschwindigkeit, mit der er das tat, konnte erschreckend sein.
»Ich werde sterben«, flüsterte er gegen ihre Lippen und nahm ihre Hand in die seinige, damit sie die tiefe Narbe in seiner Handfläche spürte. »Ich habe diesen Schwur nicht leichtfertig geleistet, Nayla, und ich werde ihn halten. Der Tag, an dem du deinen letzten Atemzug tust, wird auch mein letzter sein.«
»Ich wünschte …« Nayla schloss die Augen, als er ihr einen Finger auf die Lippen legte.
»Nicht. Nicht schon wieder. Beleidige mich nicht, indem du denkst, ich würde mein Wort brechen.« Seine Mundwinkel hoben sich zu einem Grinsen, das zwei Grübchen in die gemeißelten Gesichtszüge zauberte. »Genieße lieber die Zeit, die uns noch verbleibt, anstatt ständig mit mir zu streiten.«
Jetzt musste auch Nayla lächeln, und sie schlug ihm leicht gegen den Arm.
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