Elfenmeer: Roman (German Edition)
sah, zog sich die Erinnerung an den Schmerz bis in die tiefsten, dunkelsten Winkel ihres Gedächtnisses zurück, und dort würde sie bleiben, bis die Angst sie erneut hervorgrub. Doch bis dahin durfte sie glücklich sein.
»Bist du etwa eifersüchtig?«, fragte er, als er in seine Hosenschlüpfte und die Stiefel anzog. »Weil ich neugierig auf die Königin war?«
Nayla zuckte mit den Schultern und rutschte vom Tisch. Auch sie machte sich daran, sich wieder anzukleiden, um den Korallenfürsten anständig zu begrüßen. Er war der Anführer, und ohne ihn wären die Piraten verloren. »Die Königin ist eine schöne Frau«, meinte sie, als sie ihr Haar neu flocht. »Eine sehr schöne Frau. Natürlich, sie ist eine Elfe, aber du musst gestehen, dass sie selbst für eine von deinem Volk außergewöhnlich schön ist.«
»Sie ist perfekt«, meinte Avree, ohne von seinem Gürtel aufzublicken, und ließ Nayla mit dem Haarband in der Hand verharren. Als er sich ihres Schweigens gewahr wurde, blickte er hoch und lachte auf. »Was ist?«
»Perfekt?!« Nayla ließ ihre Zöpfe los, die sich über ihre Schultern legten und zur Brust hinabflossen, und zeigte mit dem Finger auf ihn. »So ist das also! Na warte, du verräterischer …« Sie kam nicht dazu, ihre Drohung auszusprechen, da Avree plötzlich seinen Arm um ihre Taille schlang und sie hochhob. Lachend drehte er sich mit ihr im Kreis und vergrub sein Gesicht an ihrem Hals.
»Perfektion ist etwas Schreckliches«, sagte er und küsste ihr Kinn, als er sie wieder auf die Beine stellte. »Hast du gesehen, wie kalt sie ist? Wie beherrscht?« Er klopfte ihr aufs Hinterteil und widmete sich dann wieder den letzten Knöpfen seines Hemdes. »Ich bin der Feuerprinz, Nayla, aber bei der Königin würden sogar meine Flammen erlöschen.«
Nayla brachte ein Schmunzeln zustande, denn auch wenn sie wusste, dass er diese Worte metaphorisch für seine Lust gemeint hatte, dachte sie an das Erlöschen der magischen Flammen. Ob sie wohl jemals Klarheit finden würde? Einerseits wünschte sie sich, dass sein Feuer erlosch, dass die Magie wichund ihn nicht ständig durchdrang, andererseits fürchtete sie genau das. Wie würde der Verlust der Magie ihn verändern? Wenn die Königin siegte, gäbe es in ganz Elvion keine Magie mehr und Avree wäre ein einfacher Mann. Sie könnten sich lieben, so wie früher, ehe er immer unvorsichtiger mit seinem Element geworden war. Aber könnte er so leben? Würde es ihn nicht brechen?
Nayla schüttelte den Kopf und ergriff Avrees Hand, die er ihr lächelnd entgegenstreckte. Er bot solch einen prachtvollen Anblick in seinem weißen Hemd und mit dem blutroten Kopftuch, dass sie sicher war, die Königin hatte dies auch bemerkt. Sie musste schon aus Eis bestehen, um bei Avrees Erscheinung ungerührt zu bleiben. Aber Elfen waren ja zumeist seelische Winter und so gefühllos wie ein Stein. Vielleicht war die Königin gar nicht in der Lage, Liebe oder Leidenschaft zu empfinden. In ihren grauen Augen hatte Nayla lediglich Härte gesehen. Sie waren scharf wie ein Schwert gewesen, aber auch genauso unbeugsam und kalt wie eine Elfenklinge.
Über sich auf dem Quarterdeck hörte sie schnelle Schritte, die sich Richtung Bug bewegten, und als sie mit Avree oben im gleißenden Morgen ankam, war es fast vollkommen leergefegt. Alle drängten sich am Geländer zum niedriger gelegenen Oberdeck, um mitanzusehen, wie der Korallenfürst das Schiff betrat. Einzig ihr Bruder Chip war mit seinem Kumpan am Steuerrad zurückgelassen worden und versuchte auf Zehenspitzen etwas vom Treiben in der Menge zu erkennen.
»Wir liegen vor Anker!«, murrte er bei ihrem Erscheinen und machte Anstalten, auf sie zuzukommen. »Wieso muss ich hierbleiben?«
Nayla hieß ihm stehen zu bleiben. »Das Ruder bleibt nie unbeaufsichtigt, Chip, das solltest du wissen, wenn du selbst mal Kapitän werden willst.« Sie blickte über die beiden hinwegund lächelte beim wundervollen Anblick der drei Schiffe, die sich im Westen vor dem bleigrauen Horizont abzeichneten: Avrees Ewigkeit , Flosses Goldzahn und die Freiheit des Korallenfürsten. Sie alle waren einst Rinieler Handelsschiffe gewesen und ins Eigentum der Piraten übergegangen. Die Widerstand hatte Nayla selbst aufgebracht, daher hatte der Korallenfürst ihr das Schiff überlassen und sie zum Kapitän ernannt. Es war ungewohnt für sie gewesen, nicht mehr auf Avrees Schiff zu sein, sondern selbst Verantwortung zu übernehmen, aber sie hatte sich einen
Weitere Kostenlose Bücher