Elfennacht 01. Die siebte Tochter
das wir früher immer zusammen gesungen haben?« Er begann mit tiefer, volltönender Stimme zu singen:
»Weide hell, Weide bleich,
Weide traurig und sorgenreich,
schüttle dein gelbes Haar,
oh du süße, trauernde Weide,
ich komm zu reden jetzt, Morgentau dich benetzt,
dich badet neu zuletzt, oh du süße,
trauernde Weid e …«
Er hielt inne und sah sie erwartungsvoll an.
»Tut mir leid«, sagte Anita. »Das kenne ich leider nicht.«
Er runzelte die Stirn. »Aber wir haben es viele Male gemeinsam gesungen«, sagte er. Er klang verwirrt und sogar etwas gekränkt. »Und Zara hat dazu auf dem Spinett gespielt.« Er musterte sie forschend. »Erinnerst du dich wirklich nicht mehr?«
Sie schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Ich würde ja gern, aber ich kann mich an nichts erinnern.« Sie lächelte ihn bedauernd an. Dies schien nicht der richtige Moment zu sein, ihn darauf hinzuweisen, dass das alles nur ein Traum war. »Ich weiß ja nicht mal, was ein Spinett ist.«
Der König lehnte sich zurück und wandte sich fragend zu Gabriel um.
»Sie weilte fünfhundert Jahre in der Welt der Sterblichen, Euer Gnaden«, sagte Gabriel. »Alles Wissen von früher schlummert in ihr. Ich zweifle jedoch nicht daran, dass ihre Erinnerungen mit der Zeit wiederkommen werden.«
Oberon nickte. »Mit der Zeit und dank der Gesellschaft all derer, die dich lieben«, sagte er und lächelte wieder Anita an. »Lord Drake, wollt Ihr meine Tochter nun in ihr Gemach geleiten?« Er berührte Anitas Wange. »Dort wirst du Gewänder finden und anderes, was dir möglicherweise helfen wird, dich daran zu erinnern, wer du wahrhaft bist.«
Sie runzelte die Stirn. »Gewänder?«
»Kleider«, erklärte Gabriel, kam hinter dem Stuhl des Königs hervor und reichte ihr die Hand.
Sie stand auf.
»Nun geh, Tania«, sagte der König. »Und heute Abend wollen wir feiern und vergnügt sein, wie seit einem halben Jahrtausend nicht mehr!« Er stand auf und küsste sie auf die Stirn. »Mein Segen sei mit dir, mein Kind«, murmelte er.
Sie lächelte ihn an. »Danke. Gleichfalls.«
Gabriel half ihr zurück auf den Steg. Dort drehte sie sich noch einmal um und winkte. Oberon, der ihr nachschaute, hob grüßend die Hand.
»Ach, ich mag ihn«, vertraute sie Gabriel an, während sie den Steg entlanggingen. »Wenn ich nicht schon einen echt tollen Dad zu Hause hätte, stünde er eindeutig ganz oben auf meiner Wunschliste.«
Da rief der König etwas hinter ihnen her. »Sobald die Prinzessin bereit ist, bringt sie zu ihren Schwestern. Sie haben so sehnlichst auf ihre Rückkehr gewarte t – und ihre Gegenwart wird ihr helfen, schneller ihr wahres Selbst zu finden.«
»Das werde ich tun, Euer Gnaden!«, rief Gabriel zurück.
Sie folgten einem der Steinpfade über den Rasen zum Palast.
»Ich habe also Schwestern?«, fragte Anita ihn. Dann machte etwas Klick in ihrem Kopf. »Ach ja, stimmt, in der Geschichte bin ich ja die siebte Tochter von Oberon und Titania, nicht?«, sagte sie. Sie riss die Augen auf. »Das heißt also, dass ich sechs Schwestern habe?«
»Fürwahr, Mylady.«
Anita grinste. »Das Schlangestehen morgens vorm Bad muss ja ein echter Albtraum sein!«
Gabriel lächelte sie an und neigte den Kopf. Ihr wurde bewusst, dass er das immer tat, wenn er sie nicht verstand.
»Das war ein Witz«, erklärte sie. »Mach dir keine Sorgen deswegen. Habe ich auch Brüder?«
»Nein, Mylady.«
Sie sah ihn nachdenklich an. »Besteht eigentlich die leiseste Chance, dass du mich Anita nennst? Dieses ganze Mylady-Getue ist ein bisschen sehr förmlich, wenn wir befreundet sein wollen.«
Gabriel blieb stehen. »Ihr selbst kennt Euch seit sechzehn Jahren als Anita«, sagte er. »Aber in meiner Erinnerung und in meinem Herzen wart ihr fünfhundert Jahre lang Prinzessin Tania. Vergebt mir, aber bevor Ihr Euch nicht wahrhaft an Euch erinnert, möchte ich Euch, mit Verlaub, gern weiter Mylady nennen.« Seine Stimme wurde sanfter. »Wenn jedoch Prinzessin Tania sowohl geistig als auch körperlich zurückkehrt, dann wird sich unsere Freundschaft vielleicht noch vertiefen und Ihr werdet mir gestatten, einen anderen, süßeren Namen für Euch zu verwenden.«
Als er Anita mit seinen dunkelgrauen Augen ansah, spürte sie, wie ihr ein seltsamer Schauder das Rückgrat hinunterlief. »Ä h … okay«, sagte sie. »Damit kann ich leben.« Ihr fiel plötzlich ein, dass Prinzessin Tania in dieser Geschichte genau an dem Tag verschwunden war, da sie und Gabriel vermählt werden
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