Elfennacht 01. Die siebte Tochter
hatte das Gefühl, gleich ohnmächtig zu werden, denn der Boden schwankte unter ihren Füßen. Dann bogen sich zu ihrem Schrecken Bett, Möbel und sogar die Wände und schienen vor ihren Augen zu schmelzen. Geschockt suchte Anita am Schrank Halt. Wind kam auf, pfiff ihr um die Ohren und helle bunte Lichtblitze loderten vor ihr auf. Sie zuckte zusammen und kniff die Augen zusammen.
Dann war das Gefühl, dass die Welt um sie herum flüssig geworden war, so plötzlich wieder verschwunden, wie es gekommen war, und sie blieb zitternd und verwirrt zurück.
Sie schlug die Augen auf.
Die prächtigen Kleider im Schrank waren plötzlich verschwunden.
Dicht hinter sich hörte sie Kindergeplapper und kurz darauf eine Frauenstimme, die die Kids ermahnte, leise zu sein.
Anita wirbelte herum.
Der Raum hatte sich verändert. Zwar stand das Bett noch an Ort und Stelle, aber der Großteil der übrigen Möbel war weg. Die Wandteppiche hingen noch, aber sie zeigten nun andere Szenen. Jetzt sah man Männer und Frauen in Kleidern, die für Anita eher aus biblischen Zeiten zu stammen schienen. Die Farben waren fahl und verblasst.
Am Fuß des Bettes stand eine Frau. Sie hatte den Kopf von Anita abgewandt und war von einer Schar Mädchen umringt, die vielleicht acht oder neun Jahre alt waren. Sie trugen Jeans, T-Shirts und Pullis mit Kapuzen und hatten knallbunte Rucksäcke auf dem Rücken.
Binnen weniger verrückter Sekunden war Anita also aus ihrem Traum in die wirkliche Welt zurückgekehrt. Ob sie zu guter Letzt doch noch aufgewacht war?
Aber sie lag nicht in ihrem Krankenhausbett.
V
» H ier befinden wir uns in den Privatgemächern, und zwar im Schlafzimmer der Queen«, verkündete die Frau, die Anita noch nicht bemerkt hatte. »Das ist das originale Bettgestell, allerdings sind die Vorhänge und Bettwäsche moderne Reproduktionen, die auf einem Muster aus dem 16 . Jahrhundert basieren.«
Anita starrte die Kinder an. Wo um alles in der Welt war sie?
Das erinnerte sie an irgendeinen Ort, an dem sie schon einmal gewesen war.
Aber w o – und wann?
Hampton Court Palace.
Auf ihrem Schulausflug waren sie während der Schlossführung auch in diesen Raum gewesen. Sie erkannte die Wandteppiche.
Eines der Mädchen, das hinten in der Gruppe stand, wandte sich plötzlich um und sah Anita. Ein Strahlen ging über das sommersprossige Gesicht des Mädchens. »Dein Kleid ist ja cool«, sagte sie. »Wen stellst du denn dar?«
Anita wollte etwas erwidern, aber bevor die Worte über ihre Lippen dringen konnten, wurde sie erneut von einem Wirbelsturm erfasst. Die bunten Lichter blendeten sie und der Boden brodelte und wogte erneut unter ihr, als wäre alles flüssig geworden. Anita ließ sich zu Boden sinken.
»Stopp!«, schrie sie. »Aufhören!«
Plötzlich wurde alles still.
Sie kauerte schwer atmend auf dem Boden. Im Schrank hinter ihr hingen wieder lauter Kleider und die farbigen Wandteppiche zeigten Landschaften und Meeresansichten.
Anita zog sich an der Schranktür hoch. Ihre Beine waren wie aus Gummi.
»Was war denn das?«, flüsterte sie. »Was ist da gerade passiert?«
Ein Traum im Traum?
Sie atmete ein paarmal tief durch, bis das Schwindelgefühl nachließ. Sie wollte nicht mehr allein in diesem Raum sein. Auf keinen Fall wollte sie riskieren, dass ihr das noch mal passierte. Deshalb ging sie schnell zur Tür.
Überrascht stieß sie einen Schrei aus, als eine junge Frau direkt vor ihr in der Tür erschien. Anita hatte gerade noch Zeit zu sehen, dass sie ein ähnliches Kleid trug wie sie und dass sie lange goldene Haare und strahlend blaue Augen hatte, bevor die junge Frau sich mit einem lauten Freudenschrei Anita an den Hals warf.
»Tania! Du bist es wirklich!«, rief sie, das Gesicht in Anitas Haaren vergraben. »Gabriel erzählte uns, dass er dich gefunden ha t – nach all diesen Jahren, in denen wir gehofft und gebangt haben!«
»Hallo«, sagte Anita atemlos. »Es ist auch schön, dich zu sehe n – wer immer du bist.« So sanft sie konnte, löste sie die Arme der Frau von ihrem Nacken und musterte sie. »Ich nehme mal an, wir sollten uns kennen«, sagte sie.
»Oh ja, wohl wahr, mein armes Schwesterherz«, sagte die junge Frau lächelnd. »Gabriel sagte, du könntest dich an nichts mehr aus deinem wahren Leben erinnern.« Sie trat ein paar Schritte zurück und blickte hoffnungsvoll in Anitas Gesicht. »Ich bin Zara«, sagte sie.
Anita betrachtete sie. Sie war klein und schlank, mit einem blassen, filigranen
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