Elfennacht 01. Die siebte Tochter
sollten. Hieß das, dass Gabriel sie noch immer als seine lang verschollene Braut betrachtete? Das wäre ziemlich seltsam, aber Anita beschloss, ihn lieber nicht darauf anzusprechen.
Sie setzten ihren Weg fort, der durch den Torbogen hindurch führte und dann quer über den gepflasterten Hof.
»Und«, durchbrach sie das Schweigen, das ihr langsam doch ziemlich unangenehm wurde, »wohin bringst du mich?«
»In Euer Gemach«, sagte Gabriel. »In die königlichen Privatgemächer. Es ist nicht mehr weit.«
»Königliche Privatgemächer, ja?« Anita freute sich darauf, mehr über Prinzessin Tania herauszufinden, und ihr Schlafzimmer schien ein guter Ausgangspunkt dafür zu sein. »Cool!«
Anita blickte sich voller Begeisterung in dem Schlafgemach um. Gabriel war gerade gegangen, um ihren Schwestern mitzuteilen, dass sie zurück war. Zum ersten Mal seit Beginn des Traums war sie ganz allein.
Sie sah zur Decke hinauf: Ein dekoratives filigranes Muster überzog den elfenbeinfarbenen Putz wie ein kunstvolles Spinnennetz. Wandteppiche in lebendigen, strahlenden Farben hingen an den glänzenden, dunkel getäfelten Wänden. Anita musterte die Behänge und entdeckte hügelige grüne Landschaften mit nebelverhüllten blauen Berggipfeln in der Ferne sowie fein gestickte Meeresansichten mit hoch aufragenden Schiffen, die mit vollen Segeln dem Horizont entgegenfuhren. An der dritten Wand schienen sich endlos weite goldene Kornfelder unter dem saphirblauen Himmel zu erstrecken. Und an der vierten Wand sah man große Klippen aus Eis und Schnee und deren Spiegelbilder im indigoblauen Wasser.
In Anitas Hinterkopf regte sich leise eine Erinnerung. Da lag ein Gefühl der Sehnsucht in den Wandteppichen, ein wehmütiges Verlangen nach fernen Orten, das sie dunkel an etwas erinnerte. Aber nei n – je mehr sie versuchte es zu fassen zu bekommen, desto mehr entglitt es ihr. Blitzten wirklich kurze Bilder aus einem anderen Leben auf oder spielte ihr bloß ihr träumendes Gehirn Streiche?
Der Raum wurde von einem prachtvollen Himmelbett mit dunkelroten Vorhängen beherrscht, das mindestens doppelt so hoch aufragte, wie Anita groß war, und fast bis an die Decke reichte. An einer Wand befanden sich lauter zweiflüglige Fenster, die auf einen gepflegten, kunstvoll angelegten Garten hinausgingen. An einer anderen Wand stand ein großer Schrank, in einer Ecke eine Waschschüssel aus weißem Porzellan und ein hoher Wasserkrug. Alle Möbel waren wuchtig und Stühle und Sessel waren mit dunkelrotem Samt gepolstert. Auf der Kommode lagen ein paar persönliche Gegenstände.
Neugierig lief sie über den glänzenden Holzboden zur Kommode. Gefäße mit Deckeln und zerbrechliche Glasflaschen standen dicht an dicht. In einem offenen Holzkästchen lag glitzernder Schmuck, der auch die danebenliegenden Handspiegel und Schildpattbürsten bedeckte.
Anita nahm aus dem Kästchen einen Rubinohrring, der von weißen Kristallen eingefasst war. Sie hielt ihn sich ans Ohr und betrachtete sich im Handspiegel. Kopfschüttelnd legte sie den Ohrring zurück. Das machte die verschwommenen Erinnerungen auch nicht klarer.
Sie ging quer durch den Raum zum Schrank, in dem lauter wundervolle Kleider mit bauschigen Röcken in den verschiedensten Farben hingen.
»Wow!«, hauchte sie und strich mit den Fingern über die verzierten Mieder und Reifröcke. Einige Kleider waren mit feiner weißer Spitze besetzt. Andere waren bestickt oder mit Perlen und Pailletten verziert. Die Gewänder sahen aus wie die Kleider, die Anita für ihre Rolle als Julia anprobiert hatte.
Eines war schon mal sicher: Prinzessin Tania hatte einen ziemlich guten Geschmack.
Auf der einen Seite des Schranks fand Anita ein einfaches Unterkleid aus weißem Leinen. Schnell schlüpfte sie aus ihrem Schlafanzug und zog sich das Unterkleid über den Kopf. Es reichte ihr bis zu den Knien, hatte einen tiefen, viereckigen Ausschnitt und lange Ärmel. Dann wählte sie ein herrliches aquamarinblaues Kleid. Sie stieg hinein und zog es sich vorsichtig über die Hüften, schlüpfte in die Ärmel und zupfte an sich herum, bis es gut saß.
Sie drehte sich und die bodenlangen Samtröcke wirbelten um sie herum. Der schwere, bestickte Stoff trug sich ein wenig ungewohnt, aber das Kleid saß wie angegossen. Anita fand langsam Gefallen an der Sache. Eine Elfenprinzessin zu sein, hatte eindeutig auch seine guten Seiten.
Sie hatte gerade das Mieder zugeschnürt, als sich plötzlich alles um sie zu drehen begann. Sie
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