Elfennacht 01. Die siebte Tochter
nützt mir diese Gabe, wenn ich sie nicht beherrschen kann?
Sie knurrte frustriert.
Vor ihr lag der Waldweg und sie konnte Teile der weißen Brücke erkennen. Dann sah sie über ihre Schulter in den Wald hinter sich. Sollte sie noch einmal versuchen ins Krankenhaus zurückzukehren?
Sie schüttelte den Kopf. Nein, dazu war sie zu müde. Ihre Beine waren bleischwer, sie wollte nur noch schlafen.
Wütend starrte sie das Buch an, das vor ihr lag.
»Das ist alles deine Schuld«, fuhr sie es an. »Du blödes, dummes Buch!«
Sie kroch darauf zu.
Auf der aufgeschlagenen Seite stand das Gedicht.
Nur eine kann in beide Welten,
jüngste Tochter derer sieben,
zusammen mit dem einzig Wahren,
Hand in Hand in tiefem Lieben.
Das Buch war bloß eine Aufzeichnung des Lebens von Prinzessin Tania.
Es war nicht schuld daran, dass sie ihre Gabe nicht kontrollieren konnte. Tania hob das Buch auf, klappte es zu und strich liebevoll über den Ledereinband, als wollte sie ihren Wutanfall von vorhin wiedergutmachen.
Dann trat sie den langen, mühsamen Rückweg zum Palast an.
In der Mitte der Brücke blieb sie stehen, beugte sich über das ruhig fließende Wasser, in dem sich die Sterne spiegelten. Sie dachte daran, wie Gabriel ihr seinen Umhang umgelegt hatte, als er sie ins Elfenreich gebracht hatt e – er war so liebevoll und nett gewesen, als würde er verstehen, wie verwirrt sie sein musste.
Auf der Brüstung lag ein kleiner Stein. Sie nahm ihn und warf ihn in hohem Bogen ins Wasser, wo er mit einem leisen Glucksen versank. Die Spiegelung der Sterne erzitterte und kleine Ringe breiteten sich auf der Wasseroberfläche aus.
»Die Sache ist die«, sagte sie zu sich selbst. »Wenn ich wirklich Prinzessin Tania bi n – dann ist auch das Elfenreich echt.« Ein kalter Schauder lief ihr den Rücken hinunter. »Und alles was hier geschieht!«
Auch die schreckliche Wahrheit, dass Edric in Wirklichkeit Gabriels Diener war und dass e r … dass Eva n … sie nie geliebt hatte. Dass der Junge, den sie mehr liebte, als sie jemals jemanden geliebt hatte, niemals wirklich existiert hatte. Evan hatte sie die ganze Zeit getäuscht.
Sie wandte sich ab und ließ sich verzweifelt auf die Brücke sinken. Dort blieb sie zusammengekauert sitzen, das Buch an die Brust gepresst, und starrte in den Himmel hinauf.
Tränen liefen ihr über die Wangen und sie fühlte sich auf einmal so unglücklich wie noch nie in ihrem Leben zuvor.
Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Nach und nach versiegten die Tränen und irgendwann rappelte sie sich auf und machte sich auf den Rückweg zum Palast.
Sie war froh, dass sie auf ihrem Weg niemandem begegnete.
In ihrem Gemach angekommen öffnete sie die Tür und trat ein. Kerzen, die man in rote Glasflöten gestellt hatte, tauchten das Zimmer in einen warmen rubinroten Schein. Tania warf einen Blick auf die Wandteppiche. Die Nacht hatte sich auch auf jede der gestickten Szenen gesenkt, aber an der Bewegung der Wolken, dem Wogen der Blätter und dem Klatschen der Wellen konnte sie sehen, dass sie noch immer lebendig waren. Doch im Moment spendeten sie ihr keinen Trost. Tania legte das Lederbuch unter ihr Kopfkissen und trat dann ans Fenster, um es zu öffnen.
Plötzlich hörte sie hinter sich das Knarzen der Diele n – jemand war in ihrem Zimmer. Tania fuhr herum.
Es war Edric. Er musste hinter der Tür gewartet haben. Jetzt stand er direkt vor ihr und versperrte ihr den Weg.
Er trug ein dunkelgraues Wams und Kniehosen, das blonde Haar war aus dem Gesicht gekämmt. Das Gesicht, das sie liebte. Das Gesicht des Jungen, der sie belogen hatte.
Plötzlich wurde Tania wütend.
»Was willst du?«, fuhr sie ihn an.
»Ich muss mit dir sprechen.« Er machte einen Schritt auf sie zu.
Sie wich zurück. »Aber ich nicht mit dir, Evan«, sagte sie mit gepresster Stimme. »Oh, tut mir lei d – du heißt ja gar nicht Evan, nicht? Wie ist noch mal dein richtiger Name? Edric? Ja genau, das war’s. Edric.« Sie funkelte ihn zornig an. »Weißt du, was ich am schlimmsten finde, Edric? Nicht dass du engagiert worden bist, um mich hierherzubringen, ob es mir nun gefiel oder nicht, sondern dass du mich hast glauben lassen, du würdest mich lieben. Du musst mich für eine Vollidiotin gehalten haben!« Sie schluckte und atmete tief ein. »Deshalb kann ich dir nie, niemals vergeben. Ich möchte, dass du sofort aus meinem Zimmer verschwindest.« Sie erhob die Stimme, schrie jetzt fast. »Raus!«
Edric kam rasch auf sie zu. Sie
Weitere Kostenlose Bücher