Elfennacht 01. Die siebte Tochter
bei dem Bootunfall abbekommen hatte, Wahnvorstellungen hatte, übergeschnappt sei, wie ihr Dad sich ausdrücken würde.
Sie musste ihnen irgendwie beweisen, dass sie nicht verrückt war.
Ihr fiel das ledergebundene Buch ein. Bestimmt befand es sich unter ihren Sachen. Als sie es erhalten hatte, war es leer gewese n – aber kurz darauf stand die Geschichte ihrer Kindheit im Elfenreich darin, bis zu jenem Punkt, als sie in der Nacht vor ihrer Hochzeit aus dem Elfenreich verschwunden war. Sie hatte keine Ahnung, warum die Schrift, als sie das Buch zum ersten Mal aufgeschlagen hatte, entweder unsichtbar oder gar nicht vorhanden gewesen war. Aber wenn das Gedruckte nicht wieder verblasst war, konnte sie ihren Eltern das Buch zeigen und so beweisen, dass sie nicht völlig durchgedreht war.
Tania hatte noch immer keine Ahnung, wer ihr das Buch geschickt haben könnte. Gabriel hatte es nie erwähnt, deshalb war es unwahrscheinlich, dass es zu seinem Plan gehörte. Wer immer dafür verantwortlich wa r – das Buch stammte aus dem Elfenreich, da war sich Tania absolut sicher. Als sie noch gedacht hatte, dass sich das ganze Elfenleben nur in ihrem Kopf abspielte, hatte sie angenommen, dass das Buch sie zu diesem Traum inspiriert hatte. Doch jetzt wusste sie es besser: Das Buch war die Chronik ihres Lebens, von ihrer Geburt bis zu ihrem Verschwinden.
Doch wer hatte es ihr geschickt? Evan? Wenn ja, warum? Damit sie sich mit der Wahrheit anfreunden konnte und mehr darüber erfuhr, wer sie wirklich war? Möglic h – aber warum hätte er es ihr mit der Post schicken sollen, statt es ihr einfach zu geben?
Sie spähte links und rechts den Korridor entlan g – die Luft war rein. Rasch schlüpfte sie ins Familienzimmer. An den Wänden hingen bunte Plakate und Poster und unter dem Fenster stand auf einer Truhe der Pappkarton. Tania klappte ihn auf.
Obenauf lag ordentlich gefaltet ihre Jacke. Sie nahm sie heraus und betrachtete sie. Einer der Ärmel war zerrissen und an Schulter und Rücken fand sie abgewetzte Stellen. Die Jacke war wohl inzwischen gewaschen worden, denn sie roch sauber und nicht mehr nach Flusswasser, wie es bei ihrer Ankunft bestimmt noch der Fall gewesen war.
Sie legte die Jacke zur Seite und schaute wieder in den Karton. Als Nächstes kam ihre Handtasche zum Vorschein. Tania strich mit den Fingern über den ausgeblichenen Stoff. Sie wusste, dass sich darin all die normalen, alltäglichen Dinge befanden, die bewiesen, wer Anita Palmer war: ihr Schülerausweis, die Busfahrkarte, alte Kinotickets, Lippenpflegebalsam, ihr Adressbuch, Haargummis, ihr Wohnungsschlüssel und ihr Handy.
Das Handy!
Wenn der Akku noch aufgeladen war, konnte sie jetzt sofort ihre Eltern anrufen und ihnen sagen, dass mit ihr alles in Ordnung war und sie so schnell wie möglich nach Hause kommen würde. Vielleicht würden sie sie sogar mit dem Auto hier abholen.
Ihr Herz klopfte vor Aufregung. Sie nahm die Tasche heraus, darunter kam das Buch mit dem Ledereinband zum Vorschein.
Tania griff danach, aber in dem Moment, in dem sie das alte braune Leder berührte, kam ein Sturm auf, der sie ergriff und fast von den Füßen riss.
»Nein!«
Die farbig gestrichenen Wände begannen sich um sie herum zu drehen. Tania versuchte das Buch loszulassen, aber es war zu spät. Der Raum wirbelte um sie herum, die Farben verschwammen immer mehr, bis Tania nur noch von farbigen Lichtstreifen umringt war: Rot, Grün, Blau, Gelb. Rot, Grün, Blau, Gelb. Immer schneller und schneller drehte sich alles. Dann begann der Boden unter ihren Füßen hin und her zu schwanken, bis Tania das Gleichgewicht verlor und von dem Strudel mitgerissen wurde.
XI
S ie kauerte zusammengerollt am Boden, den Kopf an die Knie gezogen und die Arme um die Beine geschlungen. Irgendwo in der Nähe erklang der Ruf einer Nachtigall. Ein lauer Wind fuhr raschelnd durch die Blätter der Bäume über ihrem Kopf und es roch modrig nach Erde.
»Na toll!«, stöhnte Tania und hob den Kopf. »Echt klasse!«
Sie befand sich wieder im Wald.
Der einzige Unterschied zu ihren früheren Übertritten war, dass ihr diesmal nicht übel geworden war, aber vielleicht war sie dafür im Moment einfach zu wütend.
Sie setzte sich auf und bemerkte, dass sie das Lederbuch noch immer in den Händen hielt. Aufgebracht schleuderte sie es von sich, sodass es mit einem dumpfen Schlag in einiger Entfernung landete und aufgeschlagen liegen blieb.
Warum passiert mir das immer wieder?, dachte sie. Was
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