Elfennacht 01. Die siebte Tochter
Nicht, weil der Ort sich verändert hatte, sondern sie selbst.
Die Station war schwach beleuchtet. Alles war ruhig. Tania spähte in das leere Schwesternzimmer. Sie schlich leise ans Ende des Gangs, in das Zimmer, in dem ihr Bett gestanden hatte.
Ein sonderbarer, beunruhigender Schauder durchfuhr sie, als sie merkte, dass dort jemand lag. Was, wenn sie das war?
Doch es war ein Mann mittleren Alters, der laut schnarchte.
Plötzlich näherten sich Schritte. In der Stille klangen sie überlaut.
Rasch versteckte sich Tania hinter den zugezogenen Vorhängen.
Zwei Krankenschwestern kamen herein. Eine der beiden kannte Tania: Es war die dunkelhaarige Schwester, die sie neulich nachts im Badezimmer gefunden hatte. Die andere hatte sie noch nie gesehen.
» … Bett neun im Auge behalten«, sagte die dunkelhaarige Schwester gerade. »Aber abgesehen davon müsstest du eigentlich eine ruhige Nacht haben. Den größten Spaß hast du sowieso verpasst, als du im Urlaub warst.«
»Wieso, was war los?«
»Ach, wir hatten zwei Patienten, die beide an ein und demselben Tag verschwunden sind«, erzählte die dunkelhaarige Schwester ihrer Kollegin. »Echt unglaublich. Dabei sollen doch eigentlich unten an allen Türen Sicherheitsleute stehen. Die Krankenhausleitung ist an die Decke gegangen. Seitdem sind wir in ständiger Alarmbereitschaft, obwohl keiner genau weiß, wozu das gut sein soll.«
»Wie meinst du da s – sie sind verschwunden?«, hakte die andere Schwester nach.
»Na ja, da war so ein junger Kerl, der einen Unfall mit einem Motorboot hatte. Er hatte keine schweren Verletzungen, hat aber das Bewusstsein nicht wiedererlangt. Er war der Erste, der spurlos verschwand, einfach so, über Nacht. Und dann, am nächsten Morgen, mitten am helllichten Tag, verschwand auch das Mädchen, das ebenfalls auf dem Boot war und mit ihm zusammen eingeliefert worden war. Ist das zu fassen? Also, wenn du mich fragst, ist der Junge zurückgekommen, hat sie sich geschnappt, und sie sind jetzt schon auf dem Weg nach Gretna Green, um heimlich zu heiraten. Dabei ist sie erst sechzehn, die kleine Närrin. Und kein Gedanke an ihre armen Eltern. Das ist doch mal wieder typisch!«
»Hat sie denn keiner rausgehen sehen?«, wollte die andere Krankenschwester wissen.
»Ein paar Leute haben angeblich gesehen, wie sie durchs Fernsehzimmer auf den Balkon ging. Sie können sich aber nicht daran erinnern, dass sie wieder reingekommen is t – dabei kommt man vom Balkon nicht auf die Straße. Der ist viel zu hoch. Außer sie ist geflogen.« Die dunkelhaarige Krankenschwester blieb kurz stehen und nahm sich das Klemmbrett vom Fußende eines Bettes. Sie ging die Notizen durch, dann blickte sie ihre Kollegin wieder an. »Allerdings war das Mädchen schon etwas seltsam.«
»Inwiefern?«
»Na ja, in der Nacht, bevor sie verschwunden ist«, begann die dunkelhaarige Krankenschwester, »habe ich sie auf dem Boden gefunden, i m … ach du meine Güte, schon so spä t – ich verpasse noch meinen Bus. Ich erzähle es dir morgen. Eine ruhige Schicht wünsche ich dir! Ach so, und da wir schon von dem Mädchen sprechen: Man hat ihre Sachen in eine Kiste gepackt und im Familienzimmer deponiert. Ihre Eltern wollen morgen früh alles abholen. Ich dachte nur, ich sage dir besser Bescheid, falls sie früher kommen als gedacht und du noch da bist.«
Sie steckte das Klemmbrett wieder ans Bett, ging rasch zum Schwesternzimmer, um ihren Mantel zu holen, und verschwand im Korridor.
Ein bisschen seltsam , sinnierte Tania. Und ich bin mit meinem Freund durchgebrannt. Na ja, das klingt auf jeden Fall logischer als die Wahrheit.
Sie wartete hinter dem Vorhang, bis die neue Krankenschwester hinausgegangen war. Dann schlüpfte Tania leise auf demselben Weg hinaus, den sie gekommen war. Sie wollte ins Familienzimmer.
Beim Gedanken an ihre Eltern verspürte sie ein schmerzliches Ziehen in der Brust. Was war schlimmer: Die Vorstellung, dass die eigene Tochter entführt worden oder dass sie aus freien Stücken mit einem Jungen weggelaufen war, ohne vorher auch nur die kleinste Andeutung zu machen?
Tania wollte unbedingt mit ihren Eltern sprechen, um ihnen Bescheid zu geben, dass es ihr gut ging. Aber wie sollte sie ihnen erklären, was geschehen war?
Dabei machte sich Tania gar keine Sorgen, dass ihre Eltern sie vielleicht für eine Lügnerin hielten, wenn sie ihnen vom Elfenreich erzählte. Beide würden vermutlich denken, dass sie aufgrund des Schlages auf den Kopf, den sie
Weitere Kostenlose Bücher