Elfennacht 01. Die siebte Tochter
zarten, kunstvoll ineinander verschlungenen, leuchtend grünen, roten und gelben Linien eingerahmt. Der Text war mit leuchtendblauer Tinte geschrieben und an jedem Kapitelanfang war die Initiale mit filigranen Ranken, Blättern und Blumen verziert.
Über Sanchas Schulter gebeugt las Tania ein paar Worte.
Wir sind alle noch hier, niemand ist fortgegange n …
»Hallo«, sagte Tania. »Störe ich dich bei der Arbeit?«
Sancha lächelte sie an. »Nein, gar nicht«, sagte sie. »Ich lese gerade das Tagebuch des Grafen Marschall Cornelius über die Kriege bei Lyonesse. Geht es dir gut, Tania? Ich war in Sorge, als du gestern Abend beim Essen so schnell weggerannt bist. Wir wollten dir folgen und dich trösten, aber Gabriel sagte, es wäre klüger, dich allein zu lassen. Was war denn geschehen?«
»Ach, du weißt schon.« Tania zuckte unbestimmt die Achseln. »Halt so.«
Sancha sah verwirrt aus. »Halt so?«
Tania zeigt ihrer Schwester das Buch. »Ich dachte, du könntest mir vielleicht hierüber etwas erzählen«, sagte sie.
Verblüfft blickte Sancha das Buch an. »Sonne, Mond und Sterne!«, stieß sie aus. »Woher stammt es? Wie ist es in deinen Besitz gelangt?«
»Gute Frage«, sagte Tania. »Irgendwie hatte ich gehofft, du könntest mir das sagen.« Sie lächelte. »Ich gehe mal davon aus, du weißt, was es ist?«
»Es ist dein Seelenbuch«, sagte Sancha und streckte ihre Hand danach aus, zog sie jedoch gleich wieder zurück, ohne das Buch zu berühren. »Es fehlt seit Jahrhunderten.« Sie sah Tania an. »Es war also die ganze Zeit in deiner Obhut?«
»Nein, ich habe es vor ein paar Tagen das erste Mal gesehen«, erklärte Tania. »Ich habe es an meinem Geburtstag zugeschickt bekommen. Ohne Absender, ohne Brief, nichts.« Sie runzelte die Stirn. »Was ist ein Seelenbuch?«
»Komm«, sagte Sancha. »Nimm das Buch. Ich zeige dir, wohin es gehört.« Sie stand auf und durch eine fast unmerkliche Handbewegung ihrerseits schloss sich das Buch, indem sie gerade gelesen hatte. Erstaunt beobachtete Tania, wie es zu schweben begann, kurz über dem Tisch verharrte, bevor es durch die Bibliothek glitt, sich langsam in der Luft drehte und in eine Lücke in einem der Bücherregale schlüpfte.
Sancha war schon vorausgeeilt. Vom anderen Ende der Bibliothek aus drehte sie sich nach Tania um. »Kommst du?«, fragte sie.
Tania staunte. »Ist das deine Gabe?«, wollte sie wissen. »Du kannst Gegenstände bewegen, ohne sie zu berühren?«
Sancha lächelte. »Fürwahr«, sagte sie. »Äußerst nützlich, nicht wahr, für jemand, der sein Leben zwischen all diesen schweren Wälzern verbringt.«
»Haben wir denn alle eine Gabe?«, fragte Tania, die ihr Buch nahm und zu ihrer Schwester ging. »Ich weiß, dass Cordelia die Sprache der Tiere verstehen kan n – aber was ist mit Zara und den anderen? Was ist ihr Talent?«
»Zaras Gabe ist die Musik«, sagte Sancha. »Sie kann uns alle durch ihre Musik verzaubern. Sie bringt sogar die Sterne zum weinen!« Sie lächelte. »Hopie ist eine Heilerin«, fuhr sie fort, dann veränderte sich ihr Ton. »Und Eden hat eine große Begabung für die Mystischen Künste.«
»Und was ist mit Rathina?«
»Ihre Gabe hat sich noch nicht gezeigt«, sagte Sancha. »Doch sie ist erst siebzehn. Die Gabe offenbart sich meist im Laufe des sechzehnten Lebensjahres, manchmal aber auch erst später. Rathina hat folglich noch Zeit, ihre zu entdecken.«
Sancha führte Tania über den schwarz-weißen Boden zu einer Wendeltreppe aus Holz. Sie stiegen bis zur vierten und letzten Galerie hinauf, die hoch über dem Boden gelegen war. Überall roch es nach Leder und altem Papier, Staub kreiste im goldenen Sonnenlicht, das durch die hohen Fenster fiel. Hier oben, ganz dicht unter der Kuppeldecke, war es ganz still, und Tania hätte am liebsten den Atem angehalten und sich nur auf Zehenspitzen bewegt, um die feierliche Stimmung nicht zu stören.
Sie beugte sich über die Balustrade und blickte hinunter, doch je länger sie das spiralförmige Muster des Geländers ansah, desto schneller schien es sich zu drehen. Schnell wandte Tania den Blick ab.
Sancha betrat eine kleine Nische mit gepolsterten Lederbänken. Darin stand ein geschnitztes Lesepult in der Form eines Adlers unter einem Fenster. Die Regale waren vollgestellt mit Büchern. Sancha zeigte auf eine Lücke zwischen zwei Bänden.
»Hier müsste eigentlich dein Seelenbuch stehen«, sagte sie. »Zwischen dem Seelenbuch von Zara und dem von Graf Marschall
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