Elfennacht 01. Die siebte Tochter
darfst das Band nicht lösen«, sagte Sancha und schloss die Augen.
Eine ganze Weile passierte nichts. Tania musterte das Gesicht ihrer Schwester und wartete auf ein Zeichen, dass diese in Tanias vergangenes sterbliches Leben sehen konnte. Doch abgesehen davon, dass Sanchas Atem immer gleichmäßiger wurde, geschah nichts.
Tania wollte gerade vorschlagen, den Versuch aufzugeben, als Sancha zu flüstern begann.
»Schwäne fliegen über korallenrote Dächer«, murmelte sie. »Ineinander verschlungen mit Spitze und taubenblauen Bänder n … die Augen gen Himmel gewandt, die Gesichter blas s …«
»Sancha?«
» … das majestätische Rauschen des eisblauen Meere s … und hoch aufragende Klippe n …« Sanchas Stimme war jetzt ein tiefer, melodischer Singsang, aber Tania verstand kein einziges Wort von dem, was sie sagte, » … verlockt von fernen dunklen Höhlen, um zu wandeln in bösen Tiefe n …« Dann verkrampfte Sancha sich plötzlich und grub die Fingernägel in Tanias Hand.
»Ah! Das ist fürwahr ein gefährlicher Ort«, sagte sie leise. »Dort lauern Krankheit, Tod, Laster und Verderbtheit.« Sie verzog schmerzlich das Gesicht und ihre Stimme wurde lauter, sie klang nun ängstlich. Die Bücherseiten unter Sanchas Hand begannen rot zu glühen, als würde das Papier glimmen und gleich in Flammen aufgehen. Dünner Rauch stieg zwischen ihren Fingern auf. Tania bereitete sich darauf vor, ihre Schwester von dem Buch wegzuziehen und dem Ganzen ein Ende zu setzen, ganz egal, was Sancha gesagt hatte.
»Welch schrecklicher Ort«, sagte Sancha mit schwacher Stimme. »Ich bin nicht Tania. Ich bin Tania. Ich bin es nicht. Ich bin. Oh, Engel des Erbarmens, verteidigt mich! Ich liege in einem kleinen dunklen Raum in einer armseligen Hütte, in einem Bett mit schmutzigen Decke n – oh, welch Gestank, es ist unerträglic h – am Boden liegt schmutziges Stro h – ich bin krank, schwer kran k – und ich habe Schmerzen, starke Schmerzen.« Sanchas Kopf rollte von einer Seite zur anderen. »Menschen beugen sich über mic h – aber in ihren Gesichtern sehe ich keine Hoffnun g – ich sterb e – welch grauenhaftes Gefühl, wie das Leben aus mir entweich t – ich habe eine furchtbare, schreckliche Krankhei t – eine tödliche Krankhei t – ich bin sterblich.« Sancha schrie panisch auf. »Ich sterbe!«
XIV
H astig riss Tania ihre Schwester von dem schwelenden Buch und beide fielen zu Boden. Sanchas Schrei brach augenblicklich ab, aber Tania hatte Angst, dass sie die Verbindung zu spät unterbrochen hatte.
Eine ganze Weile lag ihre Schwester zitternd auf dem Boden, sie atmete schwer und war kreidebleich. Der Schock stand ihr ins Gesicht geschrieben.
»Es tut mir so leid«, stieß Tania hervor und beugte sich über sie. »Ist alles in Ordnung mit dir?«
»Das Buch war brennend heiß«, sagte Sancha. Sie hob ihre Hand und betrachtete sie verwundert. »Doch die Schmerzen sind verschwunde n – und ich bin nicht verletzt«, sagte sie und zeigte Tania ihre völlig unversehrte Handfläche. »Ich hielt die Gefahr für weit größer.« Ihr Gesicht trübte sich. »Oh weh! Das Buch!«
Die Schwestern sprangen auf. Das aufgeschlagene Buch lag unbeschädigt auf dem Pul t – es gab keinerlei Brandspuren auf den elfenbeinfarbenen Seiten.
»Wie sonderbar«, sagte Tania leise.
Sancha strich sich über die Kleider. »Dies war fürwahr eine furchterregende Erfahrung«, sagte sie. »Und keine, die ich wiederholen möchte.«
»Aber hat es geklappt?«, fragte Tania. »Hast du herausgefunden, was mir zugestoßen ist, als ich in die Welt der Sterblichen gekommen bin?«
Sancha runzelte besorgt die Stirn. »Du erinnerst dich an nichts?«
Tania schüttelte den Kopf.
»Dann ist deine Seele zu gespalten«, sagte Sancha mit einem Seufzer. »Es tut mir leid, aber ich fürchte, du wirst dich möglicherweise nie an deine sterbliche Vergangenheit erinnern.« Sie schauderte. »Welch ein grässlicher Ort, die Welt der Sterblichen– ich weiß nicht, wie du es dort so lange aushalten konntest.«
Tania blickte sie an. »Bitte erzähl mir, was dir das Seelenbuch gezeigt hat«, bat sie.
»Ich brauche einen Moment Ruhe«, sagte Sancha. »Ich bin sehr müde.« Auf unsicheren Beinen ging sie zu einer Bank und ließ sich nieder.
Tania setzte sich neben sie und legte den Arm um ihre Schultern. »Es tut mir so leid, dass du das durchmachen musstest«, murmelte sie. »Das klang schrecklich.«
Sancha hob den Kopf. »Ich glaube, ich weiß, wie es
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