Elfennacht 01. Die siebte Tochter
Verlies ein. Das Licht der Laterne glitt über die feuchten, tropfenden Wände aus schwarzem Stein. Der Gang war inzwischen so niedrig, dass es fast unmöglich war aufrecht zu gehen.
Der Weg endete in einem kleinen kreisrunden Gewölbe. Von hier aus gingen in alle Himmelsrichtungen weitere Gänge ab. Tania schlotterte vor Kälte und wählte willkürlich einen von ihnen aus.
Doch dann zögerte si e – sie hatte keine Ahnung, wo sie gerade war, und sie wollte sich nicht verirren. Also musste sie dafür sorgen, dass sie wieder zurückfand: Sie musste Markierungen hinterlassen. Sie stellte die Laterne ab und ritzte mit der Schwertspitze einen Pfeil in den Stein.
Der neue Gang war breiter und höher als der erste. In die Wände waren dunkle Nischen eingelassen. Als Tania sich einer der schulterbreiten Einbuchtungen näherte, sah sie, dass darin eine große schwarze Kugel bewegungslos in der Luft schwebte.
Die riesige Kugel war mit Schmutz und Spinnweben überzogen. Als Tania einen weiteren Schritt darauf zumachte, bemerkte sie ein fahles gelbliches Licht, das aus dem Inneren der Kugel zu kommen schien. Sie starrte hinein und entdeckte, dass unter der Schmutzkruste ein Mann kauert e – er war wie erstarrt.
Entsetzt wich Tania zurück. Die schwarze Kugel war ein Bernsteingefängnis. Wie lange war es hier wohl schon? Jahre? Jahrhunderte? Welches Verbrechen hatte der Mann begangen, das so eine schreckliche Strafe rechtfertigte?
Schaudernd setzte Tania ihren Weg durch den Gang fort. Zu ihrer Erleichterung waren viele der dunklen Nischen leer, dennoch enthielten viel e – zu viel e – von ihnen Bernsteingefängnisse, die dort in der schauerlichen Stille vor sich hin moderten.
Tania kam erneut zu einer Weggabelung. Sie kaute auf ihrer Unterlippe und starrte angestrengt in die schwarzen Tunnelöffnungen. Das Verlies war riesi g – wie sollte sie Edric hier finden?
»Ich muss ihn finden«, murmelte sie laut. »Ich werde so lange suchen, bis ich ihn gefunden habe, etwas anderes bleibt mir gar nicht übrig.«
Sie wählte einen Gang, ritzte wieder einen Pfeil in den Stein und setzte ihre Suche fort.
Nicht alle Bernsteingefängnisse waren im selben Zustand. Einige waren pechschwarz, in anderen leuchtete es noc h – und gelegentlich kam sie an einem vorbei, in dem der Gefangene noch als Schattenriss zu erkennen war. Das waren die schlimmsten, denn im orangefarbenen Licht konnte sie die gequälten Gesichter der Opfer erkennen, die sie mit leeren Augen ansahen. Tania ging dazu über, diese Kugeln lieber nicht allzu genau zu betrachten. Sie warf nur einen flüchtigen Blick in die Nischen, um sicherzugehen, dass Edric nicht darin sa ß – dann ging sie tiefer in die Dunkelheit, immer weiter und weite r …
Wie lange bin ich jetzt wohl schon hier?, dachte sie und hielt einen Moment inne. Minuten? Stunden? Hier unten verlor man jegliches Zeitgefühl. Ihre Arme schmerzte vom Tragen der Laterne und des Schwerts. Sie war bis auf die Knochen durchgefroren und ihre Beine zitterten vor Erschöpfung. Wenn es noch lange dauerte, würde sie irgendwann einfach zusammenbrechen.
»Edric!«, rief sie, aber ihre Stimme wurde von der Dunkelheit verschluckt. »Edri c – wo bist du?«
… und Julia ist meine Sonn e …
»Ach, ich wünschte, ich wäre es«, murmelte sie. »Hier unten könnte ich ganz gut etwas Sonnenlicht gebrauchen.« Sie umklammerte das Schwert mit festerem Griff und marschierte einen weiteren modrigen Gang entlang.
Sie zählte ihre Schritte um ein Gefühl für den zurückgelegten Weg zu bekommen. Hundert Schritte. Zweihundert. Noch eine Kreuzung. Noch ein eingeritzter Pfeil. Ein neuer Gang. Hundert. Zweihundert.
Schließlich stolperte sie nur noch mutlos vora n – sie war so müde und ihre Beine waren bleischwer. Doch mit einem Mal bemerkte sie vor sich ein bernsteinfarbenes Glühen, das heller war als das aller anderen Kugeln bisher.
Edric? Bitte lass es Edric sein.
Mit klopfendem Herzen rannte sie darauf zu.
Das Licht drang aus einer der Nischen. Tania, die kaum zu hoffen wagte, sie könnte ihn zu guter Letzt doch gefunden haben, spähte um die Ecke. Die Bernsteinkugel leuchtete so hell, dass sie ihren Blick rasch abwenden musset, aber sie sah genug, um das Gesicht zu erkennen: Es war Edric.
»Geschafft!«, flüsterte sie.
Tania stellte die Laterne auf den Boden und streckte die linke Hand vorsichtig nach der fließenden gelben Oberfläche aus, doch der Bernstein war inzwischen abgekühlt. Sie legte ihre
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