Elfenschwestern
an der dreifach geschlungenen dünnen Goldkette der Tiger und die Lilie. Lily hatte in letzter Sekunde das Gefühl gehabt, einen Talisman zu brauchen. Zu Recht, dachte sie jetzt.
„Wir sind ganz am Ende dran“, antwortete Rose. Als Lily sie entsetzt anstarrte, grinste sie. „Hast du etwas anderes erwartet, Schwesterherz? Alle sind wichtiger als wir.“
„Aber wer am Schluss die Treppe herabkommt, bleibt in Erinnerung.“ Grayson Lancaster bot seinen Töchtern je einen Arm. „Meine Damen“, sagte er. „Lasst uns dafür sorgen, dass diese selbstgefälligen Snobs vor Ehrfurcht erstarren.“
Ein zufriedenes Grinsen schlich sich auf Roses Gesicht. „Das“, sagte sie zu ihrem Vater, „ist ein wirklich guter Plan.“
Sie standen auf der Empore als Letzte in der langen Reihe weiß gewandeter Elfenmädchen und ihrer schwarz gekleideten Väter. Die um die Balustrade gewundenen Stechpalmengirlanden dufteten herb und grün. Der Geruch mischte sich mit dem blumiger Parfüms und harziger Tannenzweige. Von hier aus konnte Lily direkt in die funkelnden Kristalle des ausladenden Kronleuchters und in die Spitze des riesigen Christbaums, der unten in der Eingangshalle stand, sehen. Er war passend zum Debütantinnenball ganz in Weiß geschmückt: Matte Kugeln wechselten sich mit glänzenden ab, große mit kleinen, Zapfen hingen neben künstlichen Eiskristallen, Glas kontrastierte mit hauchdünnem Porzellan, Seidenschleifen bauschten sich in der Nähe von silber-weiß gestreiften Zuckerstangen, winzige Lichter funkelten zwischen den Ästen. Lily fühlte sich so an den Weihnachtsbaum von Somerset House erinnert mit seinem Brüderchen-und-Schwesterchen-Schmuck, dass sie fester nach dem Arm ihres Vaters fasste.
„Die Nerven?“, flüsterte Gray.
Lily hatte nicht damit gerechnet, Lampenfieber zu bekommen. Aber jetzt, da sie zusah, wie eine junge Fey nach der anderen die Treppe hinunterschritt, um sich den wartenden Gästen zu präsentieren, begann sie innerlich zu flattern.
„Ruhig Blut“, murmelte Rose. „Schau uns an. Wir sehen umwerfend aus.“
Rose hatte Recht.
Lily schimmerte golden: von den aufgesteckten blonden Locken über die bloßen Arme bis zu dem warmen Elfenbeinweiß ihres Kleides. Rose hingegen hatte einen unterkühlten Glanz: von ihrem blauschwarzen Haar über ihre schneeweiße Haut bis zu dem kalten Reinweiß ihrer herzförmig ausgeschnittenen Korsage und des wolkigen Tüllrockes. Die blonde und die dunkle Schwester, links und rechts von ihrem attraktiven Vater, waren ein beeindruckender Anblick.
Lily straffte sich. Sie war bereit.
Emma vor ihnen warf noch einen nervösen Blick zurück, bevor sie sich mit ihrem Vater an die oberste Treppenstufe stellte. Lily hob ihre freie Hand zum Zeichen, dass sie der Freundin die Daumen drückte. Zaghaft lächelnd begann Emma den Abstieg. Nach ein paar Schritten war sie außer Sichtweite.
Lily hielt den Atem an.
Beifall erscholl. Nicht gerade herzlich, aber höflich.
Dann tönte Olive Baker-Smith’ frostige Stimme von unten: „Gray Lancaster, Baron von Greenwood, mit seinen Töchtern Wild Rose Fairchild und Tigerlily Fairchild.“
„Auf geht’s“, murmelte Gray.
Vater und Töchter traten vor. Und die tuschelnde Menge verstummte.
Da unten standen sie, die Mitglieder des Hochadels. Ein Meer von erwartungsvoll nach oben geneigten Gesichtern breitete sich aus, Augen funkelten, Juwelen glitzerten, spitze Ohren schimmerten im Licht des Kronleuchters.
Die drei Lancasters ließen sich davon nicht beeindrucken. Gemessen und im selben Takt schritten sie die Treppe hinab. Lily fühlte die Augen auf sich ruhen, während sie ihre Finger in den Arm ihres Vaters krallte und darum betete, sich nicht mit ihren hohen Absätzen in dem langen Saum ihres Kleides zu verheddern. Aber sie würde sich nicht beirren lassen, den Blick nicht scheu senken, oh nein! Lily hob das Kinn auf der Suche nach einem Punkt, den sie fixieren konnte. Und fand Alistair.
Der junge Earl blickte ihr vom Fuß der Treppe entgegen.
Er sah verboten gut aus in seinem nachtschwarzen Frack, das silberblonde Haar streng zurückgekämmt, das Kinn glatt rasiert, die Fliege makellos weiß. Wie ein Kavalier aus den Zwanzigerjahren, dachte Lily. Dann entdeckte sie die Lilienblüte an Alistairs Revers und wäre fast aus dem Tritt geraten.
Richtig, er wartete auf sie. Auf sie allein.
Lily fühlte ihr Herz bis hinauf in ihre Kehle flattern wie ein gefangener Vogel.
Als sie die vorletzte Stufe erreichten, tat
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