Elfenschwestern
können. Ja, er hätte tatsächlich der Erste werden können, der mir gefällt.“
Sie meinte, ihm hätte sie vielleicht ihr Herz geöffnet. Lily spürte, wie Mitgefühl und Furcht nach ihr griffen. „Wirst du mich hassen?“, fragte sie bang. „Hinterher?“
„Ich weiß es nicht“, wisperte Rose und eine einzige Träne rann langsam ihre zart gepuderte Wange hinunter.
Der Anblick einer ratlosen und verzweifelten Rose war erschütternd. Noch vor wenigen Stunden hätte Lily sofort die Arme um ihre Schwester geworfen und mit ihr geweint. Aber sie hatte ihr Innerstes sorgsam verschlossen und den Schlüssel weit von sich geworfen. Ihre Gefühle mussten unter Kontrolle bleiben. Sonst sterbe ich, dachte sie.
„Und du, Tigerlilie?“, fragte Rose heiser. „Was ist mit dir?“
„Mit mir?“
„Und Jolyon.“
Lilys Hände zuckten in ihrem Schoß. Ihre rauchgrau umrandeten Augen weiteten sich. Dann war sie wieder still, so still wie der schwarze See, so kalt wie der weiße Schnee.
„Jolyon wird es überleben“, sagte sie ruhig.
„Und du, Tigerlilie?“, fragte Rose wieder, drängender diesmal. „Wirst du es überleben? Du hast dein Herz verloren, Schwesterherz. Wie willst du es da einem anderen schenken? Noch können wir zurück.“
Lily rührte sich nicht. „Ich tue es für Gray“, sagte sie schließlich.
Eine zweite Träne folgte der ersten. Rose wischte sie ungeduldig fort. Sie nickte entschlossen. „Für Gray. Wir holen ihn zurück.“
Die Tür öffnete sich und Emma schlüpfte hindurch. Rose wandte sich ab, um einmal über die Tränenspuren zu pudern, Lily aber lächelte der Freundin entgegen.
„Du siehst wunderhübsch aus“, sagte sie ehrlich.
Emma strahlte. Sie strich mit beiden Händen über die matt schimmernde Atlasseide ihres schlichten Oberteils mit dem dezenten runden Ausschnitt und zupfte an der obersten Lage ihres duftigen Taftrocks. Dieses Kleid ließ das zierliche Menschenmädchen aussehen wie eine Blumenelfe. Nur die Flügel fehlen, dachte Lily.
„Danke!“, rief Emma ein wenig verlegen. „Ich gefalle mir auch. Vor allem mein Haar.“ Sie hob eine Hand zu ihrem festen Ballerinaknoten, auf den Rose so viel Haarlack mit Glimmerpartikeln gesprüht hatte, dass die Kräusellocken unter Kontrolle waren und im Licht funkelten. „Rose, das ist wirklich wunderbar geworden.“
Rose hatte sich wieder im Griff. Sie verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln. „Kein Protest mehr? Ich soll deine Ohren nicht doch wieder verstecken?“
„Nein.“ Emma schüttelte energisch den Kopf. Ihre Perlentropfenstecker schaukelten bei der Bewegung und lenkten den Blick auf die kleinen, perfekten Ohrmuscheln. „Mein Vater mag es auch. Er wartet draußen. Zusammen mit eurem Vater“, fügte sie etwas unsicher hinzu.
Verständlich, dachte Lily. Wir wissen ja auch nicht so richtig, was wir von dem Mann halten sollen. „Wir sind fertig“, versicherte sie und erhob sich. Die Seide ihres Kleides rauschte wie Weidenzweige in einer Sommerbrise, als sie über ihre Beine nach unten glitt.
Emma bewunderte Lily. „Märchenhaft“, hauchte sie. „Alle beide. Wisst ihr“, sagte sie und ihre Augen nahmen einen träumerischen Ausdruck an, „ihr seht aus wie Odette und Odile.“
Rose runzelte die Stirn und Lily hob fragend die Brauen.
„Der weiße und der schwarze Schwan“, erklärte ihre Freundin. „Aus dem Ballett. Gleich schön. Nur eine hell und eine dunkel.“
Die Schwestern lächelten sich traurig an.
„Schwanensee“, sagte Rose nachdenklich. „Wie war das? Stirbt der weiße Schwan nicht am Schluss?“
Emma sah sie erschrocken an. „Das hängt von der Inszenierung ab“, erklärte sie vorsichtig. „Manchmal bekommt Odette am Ende auch ihren Prinzen.“
„Oh, den Prinzen bekommt sie“, murmelte Rose, raffte mit einer Hand ihren Tüllrock und wandte sich zur Tür. „Nur ist es leider der falsche.“
Emmas Schwanenvergleich ging Lily nicht mehr aus dem Kopf. Und sobald sie die Menge tuschelnder Fey sah, alle in Weiß, alle raschelnd und knisternd in ihren Ballroben, die schimmernden blassen Arme vor Aufregung flatternd, die Nacken gebogen unter den festlichen Frisuren, musste Lily an Schwanengefieder und Flügelschlagen denken. Sie fand die Debütantinnenschar bezaubernd.
Trotzdem waren es Wild Rose und Tigerlily, nach denen sich alle umdrehten, während die beiden sich mit Emma zu den übrigen Mädchen am Kopf der weit geschwungenen Treppe gesellten. Warum?, fragte sich
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