Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Elfenschwestern

Elfenschwestern

Titel: Elfenschwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
Vom Netzwerk:
wirkte auf Lily kühl und unnahbar mit seinem forschenden Blick und dem kurz geschorenen Schädel. Aber während Superintendent Davis ihr nur den Rücken zukehrte und mit unangenehm seidenweicher Stimme auf Kate einredete, wandte sich Sergeant Webber auch Lily zu.
    „Wir tun, was wir können, um Grayson zurückzuholen“, sagte er an Mutter und Tochter gerichtet.
    Kate schien kein Wort gehört zu haben. Sie lehnte völlig teilnahmslos in den Sofakissen, die knielange braune Kaschmirstrickjacke über ihrem Nachthemd schief zugeknöpft, die Finger in jene Decke gekrallt, in deren Fasern noch der Duft nach Gray hing.
    Lily konnte ihn bis zum Fenster riechen, wo sie mit verschränkten Armen lehnte.
    Sie hatte keine Zeit gehabt, sich etwas überzuziehen. Sie stand dort barfuß auf dem nachtkalten Dielenboden, nur in ihren gestreiften Pyjamahosen und dem grauen Langarmshirt, das ihr immer von einer Schulter rutschte. Sie war sich ihrer Erscheinung in Gegenwart der Beamten in Wintermänteln und schneeverkrusteten Straßenschuhen nur zu bewusst, aber es war ihr herzlich gleichgültig, so wie ihr gerade alles gleichgültig war außer Gray. „Was werden Sie denn tun, um meinen Bruder zu finden?“, verlangte Lily von dem Sergeant zu wissen.
    Er zögerte kaum merklich. „Das Übliche, Miss“, erklärte er dann. „Zeugen suchen. Die Menschen auf dem Campus befragen, um herauszufinden, ob sie etwas Ungewöhnliches gesehen haben.“
    „Ach ja? So etwas Ungewöhnliches wie einen Fassadenkletterer vielleicht?“
    Jetzt richtete Superintendent Davis seine Aufmerksamkeit auf Lily. Er streckte sich, als wolle er seine beachtliche Größe von mindestens einem Meter und neunzig bis zum letzten Zentimeter vorführen.
    „Wie meinst du das, bitte?“, fragte er von oben herab. „Einen Fassadenkletterer?“
    Lily sah ihn kalt an. „Sie sind durchs Fenster gekommen, als sie Gray geholt haben.“
    Einen Moment herrschte Stille. Sogar der Superintendent schwieg. Dann sagte er: „Das weißt du nicht.“ Er schaffte es, Verachtung in jedes seiner Worte zu legen.
    „Doch“, sagte Lily kühl. „Das weiß ich sehr wohl.“
    „Es gibt keinen anderen Weg“, flüsterte Kate. Sie starrte immer noch blicklos ins Leere. „Die Wohnungstür war von innen abgeschlossen. Ich habe sie erst geöffnet, als ich Sie beide hereinließ.“
    Superintendent Davis trat neben Lily ans Fenster. Seine dunkelblonden Locken schimmerten wie feucht, waren mit irgendeinem Pflegemittel so sorgfältig zurückgekämmt, dass keine Strähne aus der Reihe tanzte. Sein Hemdkragen stand steif und faltenlos aus dem Revers heraus. Er roch so süßlich herb nach Aftershave, als habe er es gerade erst in seine glatten Wangen geklopft. Lily merkte, wie sich ihr der Magen umdrehen wollte. Dieser Mann war ihr körperlich zuwider.
    „Wir sind im vierten Stock“, sagte er verächtlich. „Glaubst du, die Eindringlinge konnten fliegen?“
    „Glauben Sie es?“, schoss Lily zurück.
    Seine rosigen Wangen tönten sich dunkel. Leicht zu provozieren, stellte Lily fest. Wie unpraktisch für einen Beamten von Scotland Yard.
    „Ich setze auf Fakten und sonst nichts“, begann Superintendent Davis eine, wie es schien, längere Rede.
    Doch Lily hörte ihm nicht mehr zu. Sie wandte sich an ihre Mutter, die ihr in der vergangenen Stunde so fremd geworden war. Irgendwo in diesem spiegelglatten Wesen musste doch noch ihre Kate stecken, Katherine Fairchild, die Kluge und Lebenslustige, die alles tat für ihre Sprösslinge. Die mitten in der Nacht aufstand, nur weil der erste Schnee fiel, mit ihren Kindern durch das Wäldchen hinter Grannys Haus bis hinunter zum Ufer des Fleeting Jim lief und zusah, wie das schwarze Wasser weiße Flocken schluckte und die kahlen Bäume ringsum sich in einen Winterwunderwald verwandelten. Ohne Gray würde der Tag des ersten Schnees nie wieder derselbe sein.
    „Mum“, sagte Lily und hörte selbst, dass ihre Stimme jetzt rau klang vor unterdrückten Emotionen. „Du musst es ihnen sagen.“
    Superintendent Davis rollte genervt mit den Augen, Sergeant Webber aber hob aufmerksam den Kopf.
    „Was soll sie uns sagen, Lily?“, hakte der Sergeant nach.
    Lily schwieg. Sie ließ ihre Mutter nicht aus den Augen, hob langsam die Arme – und strich sich mit beiden Händen die Haare zurück hinter ihre spitzen Elfenohren.
    „Lily!“ Wie ein Peitschenschlag knallte das Wort durch den Raum.
    Lily zuckte zusammen. Sie ließ die Hände sinken und blinzelte

Weitere Kostenlose Bücher